Über Quo vadis NATO
Quo vadis NATO?
Herausforderungen für Demokratie und Recht
Publikation zur gleichnamigen Konferenz der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA)
vom 26.4. – 28.4.2013 in Bremen
Das Programm finden Sie hier zum Download.
Die Deutsche Sektion der IALANA veranstaltete zusammen mit dem von Prof. Andreas Fischer-Lescano geleiteten Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) an der Uni Bremen vom 26. bis 28. April 2013 eine Tagung zum Thema „Quo vadis NATO – Herausforderungen für Demokratie und Recht“. Die Veranstalter knüpften damit an die Tagung „Frieden durch Recht“ vom Juni 2010 in der Berliner Humboldt-Universität an.
Kooperationspartner der Veranstalter der Bremer Tagung waren zahlreiche weitere Organisationen aus dem universitären und juristisch-gesellschaftlichen Bereich, darunter u.a. die „Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)“, die „Neue Richtervereinigung“, der „Bundesfachausschuss der Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Ver.di“, der „Republikanische Anwaltsverein“ und der ASTA der Uni Bremen.
Das Programm der Tagung war weit gefächert und explizit darauf ausgerichtet, eine offene Diskussion über zahlreiche brennende Fragen, die die Militär- und Sicherheitspolitik der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten betreffen, zu führen, anzustoßen und zu fördern. Nicht zuletzt deshalb haben die Veranstalter, Gesprächs- und Diskussionspartner eingeladen, die sehr unterschiedliche Perspektiven, Informationen und Erfahrungen einbringen konnten.
Diese Publikation soll einerseits aktuelle Fragen zur Außen- und Sicherheitspolitik der NATO aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht beantworten und andererseits zu kontroversen Diskussionen anregen.
Bericht über die Eröffnung des Kongresses „Quo vadis NATO?“ – Textdokument hier zum Download
von Helga Wullweber
Es moderierten die ua für gesellschaftspolitische Sendungen beim Bayrischen Rundfunk zuständige
Redakteurin Dr. Nicole Ruchlak (München) und der Vorstandvorsitzende von IALANA
Rechtsanwalt Otto Jäckel.
A. Eingangsstatements zur Intention des Kongresses und zu den Erwartungen an die Arbeitsergebnisse
Otto Jaeckel (IALANA) zur Intention des Kongresses: Bestehende rechtliche Regelungen und Verfahrensabläufe zu prüfen, inwieweit sie die demokratische Kontrolle von Militäreinsätzen der
NATO gewährleisten, und zu erörtern, welche Änderungen nötig sind, um Gründen, die einem Militäreinsatz entgegenstehen, zur Beachtung zu verhelfen.
Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano (Zentrum für europäische Rechtspolitik – ZERP) wies darauf hin, dass ein wichtiges Forschungsvorhaben des von ihm geleiteten ZERP sei, einen normativen Rahmen für die transnationale Sicherheitspolitik zu entwickeln und in rechtsstaatlichen und demokratischen Verfahren durchzusetzen. Er kritisierte, dass bewährte rechtliche Standards für die Zulässigkeit von Militäreinsätzen im Kontext der Reaktion der NATO-Staaten auf 9/11 durch die Berufung auf nicht endende Selbstverteidigungsrechte aufgegeben würden. So werde als Rechtsgrundlage für die Beteiligung der Bundeswehr an der NATO-geführten „Operation Aktive Endeavour“ (OAE) zum Schutz vor terroristischen Aktivitäten im Mittelmeerraum noch immer der Antiterrorkrieg der USA wegen 9/11 genannt, den diese unter Berufung auf das Recht auf Verteidigung gemäß Art. 51 VN-Ch begann, und den die NATO mit der Erklärung des Bündnisfalles gemäß Art. 5 NATO-Vertrag unterstützt. Dieser OAE-Bundeseinsatz sei inzwischen seit geraumer Zeit eklatant rechtswidrig, weil nach zwölf Jahren ohne konkrete Angriffe eine Bündnisgefährdung nicht mehr ersichtlich sei. Fischer-Lescano wies außerdem auf die herausragende Bedeutung hin, die die Friedensursachenforschung an der Universität Bremen durch die Arbeiten von Dieter Senghaas zu den erforderlichen internationalen und innergesellschaftlichen Strukturen eines nachhaltigen Friedens, gebündelt im zivilisatorischen Hexagon, erlangt hat.
Prof. Dr. Matthias Stauch (Bremer Stadtrat „Justiz, Verfassung und Arbeit“) betonte das Interesse der Politik an der Entwicklung und überzeugenden Begründung rechtlicher Maßstäbe und konkreter Leitsätze für die völker- und verfassungsrechtliche Beurteilung militärischer Einsätze, auch humanitär begründeter .
B. Impulsvortrag von Dr. Hans-Christof Graf von Sponeck (früherer Beigeordneter des UN-Generalsekretärs), „Menschenrechte, Militäreinsätze und geopolitische Interessen“
Von Sponeck kontrastierte die heutige NATO mit ihrem Gründungsanspruch. Die Entwicklung, die die NATO genommen habe, sei mit dem Washingtoner-Gründungsvertrag von 1949 nicht mehr vereinbar. In diesem Vertrag hatten die NATO-Staaten sich verpflichtet, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden (Art. 1), und die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit anzuerkennen (Art. 7). Aufgrund ihre Dominanz im Sicherheitsrat seien es tatsächlich aber die NATO-Staaten, ihrerseits dominiert von den USA und ihrem Macht- und Vorherrschaftsanspruch, gewesen, die in den vergangenen Jahrzehnten im Sicherheitsrat über die Entscheidungen bestimmt haben. Hierauf baue die Arroganz der Macht der USA und – 2003 aus Anlass des Irak-Krieges – ihre Anmaßung: „We are the international law“. Die seit 1999 erfolgende globale Ausrichtung der Interessen der NATO habe eine weitere Beeinträchtigung der vorrangigen Verantwortung der Vereinten Nationen für die Erfüllung der Ziele der UN-Charta, internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen, bewirkt. Statt Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden (Art. 1 Ziff. 4 VN-Ch), seien die Vereinten Nationen marginalisiert worden. So habe die NATO, geführt von den USA, zwecks Gewährleistung ihrer geopolitischen Interessen an Energiesicherheit nur für ihre Mitgliedsstaaten sich ein Netzwerk geschaffen, das ihr weit über die Grenzen der Territorien ihrer Mitgliedsstaaten hinaus die Kontrolle und Einflussnahme auf Regionen in nahezu allen Weltteilen ermögliche. Wegen dieser rigiden Interessenpolitik der NATO-Staaten sei das Misstrauen gegenüber einer Schutzverantwortung der, von den NATO-Staaten dominierten, Vereinten Nationen für durch rechtswidriges staatliches Handeln in größte Not geratene Bevölkerungen begründet und berechtigt.
Abschließend stellte von Sponeck fest, die NATO könnte in Kooperation mit den Vereinten Nationen Vieles zur Durchsetzung der Menschenrechte für alle leisten. Eine solche Kooperation erfordere aber eine universelle Rechenschaftspflicht hinsichtlich der Respektierung der Menschenrechte auch für die NATO-Staaten und ein Ende der praktizierten Doppelstandards.
C. Impulsvortrag von Prof. Dr. Reinhard Merkel (Universität Hamburg): „Militärische Interventionen zum Schutz von Menschenrechten? – Erörterung am Modell Libyen“ sowie über die Podiumsdiskussion mit den Referenten Dr. von Sponeck und Prof. Merkel und Prof. Dr. Norman Paech (Universität Hamburg) und Katja Keul (MdB Bündnis 90/Die Grünen)
1. Reinhard Merkel zur Bedeutung und zu den Voraussetzungen der RtoP
Reinhard Merkel hat die Problematik von humanitären Interventionen erörtert in „Das Elend der Beschützten, Rechtsethische Grundlagen und Grenzen der sog. humanitären Intervention und die
Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovokrieg“, in „Der Kosovokrieg und das Völkerrecht“, Hg Reinhard Merkel, 2000, S. 66-98. Die VN-mandatierte militärische Intervention in Libyen hat er 2011 kommentiert in „Die Intervention in Libyen, Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Anmerkungen in einem weltpolitischen Trauerspiel“, in Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), 2011, S. 771-783. Auf diese beiden Abhandlungen stützt sich die Darlegung der von ihm im Impulsvortrag vertretenen Positionen unter Einbeziehung seiner Antworten auf Nachfragen (weil bei Abfassung dieses Berichts der Text des Vortrages nicht vorgelegen hat).
Merkel zur Historie: Das klassische Konzept der humanitären Intervention werde verdrängt durch das Konzept der sogenannten Responsibility to Protect (RtoP), das 2001 von der internationalen Kommission vorgestellt wurde (International Commission on Intervention and State Sovereignty – ICISS), die auf Anregung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan aus Anlass der völkerrechtlichen Auseinandersetzungen wegen des Kosovo-Krieges der NATO 1999 von der kanadischen Regierung eingesetzt worden war. Das Konzept der RtoP wurde 2004 durch eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen (High Level Panel) ergänzt durch die Entwicklung von Schwellenkriterien für den Einsatz von militärischer Gewalt. 2005 wurde es, leicht modifiziert, in das
Schlussdokument der VN „World Summit“ übernommen.
Merkel zur Bedeutung von RtoP: Die Kritiker von RtoP deuten sie als Vehikel für die Regeln der VN-Ch ausweitende Gründe für militärische Interventionen. Merkel ordnet das Konzept der RtoP als
rechtsphilosophische Begründung nach der VN-Charta zulässiger völkerrechtlicher Gewalt ein, die rechtsethisch den Entscheidungsspielraum des Sicherheitsrates sowohl fundiert als auch begrenzt, den dieser bei der, nach den Art. 39 ff VN-Ch für die Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung erforderlichen, Feststellung einer Friedensgefährdung hat. Mit dem Prinzip der RtoP werde klargestellt, dass es neben den klassischen Formen der Friedensgefährdung einen weiteren Modus der Gefährdung der internationalen Sicherheit gibt – den der flächendeckenden, systematischen
Zerstörung der inneren Sicherheit eines Staates durch diesen selbst. Die Begründung hierfür laute: „Der Staat, der als rechtliche Zwangsordnung nur und zuallererst dadurch legitimiert ist, dass er seinen Bürgern die Grundbedingungen des inneren Friedens, vor allem die Sicherheit von Leib, Leben, elementarer Freiheit und Heimat gewährleistet, verliert seine Legitimität, wenn er deren Bedingungen, eben jene Gewährleistungen nicht mehr erfüllt, ja sie systematisch und flächendeckend zerstört. Doch verletzt er damit noch mehr als die unabdingbaren Minimalrechte seiner eigenen Bürger: Er tastet zugleich eine universale Grundnorm an, die weltweit auch jedem anderen Staat das legitimatorische Fundament gibt – die normative Bedingung des rechtlichen Konstitutionsverhältnisses aller Staaten zu ihren Bürgern, also eine Grundnorm der staatlich verfassten Weltordnung. Wenn der noch so fern gelegene Staat X eine große Gruppe seiner eigenen Bürger systematisch verfolgen, foltern, ermorden lässt, dann verletzt er eine Norm, die nicht nur seinen Bürgern, sondern auch mir in meinem und
jedem anderen Bürger in seinem Heimatstaat ein elementares Recht auf Sicherheit garantiert. Bliebe ein solcher Normbruch weltweit ohne Reaktion, dann zöge das den Beginn einer Erosion der
Normgeltung nach sich. Und eine solche Erosion eben müsste die Sicherheit aller Menschen im Verhältnis zu allen ihren Staaten bedrohen, und damit diese Staaten in ihrer legitimen Verfasstheit
selbst. Für schwere Völkerrechtsverbrechen in einem Staat ist deshalb normativ die ganze Gemeinschaft der Staaten zuständig“ (ZIS 2011 S. 776).
Als Grenzkriterien für eine militärische Intervention habe die ICISS die systematische und massenhafte Begehung der vier Grundtatbestände schwerer völkerrechtlicher Verbrechen genannt, wie
sie das Statut des IStGH in seinen Art. 5-8 fixiert, deren Tatbestandsmerkmale bekannt und anerkannt sind. Zu diesen zählen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zB durch vorsätzliche Tötungen und im Falle eines nichtinternationalen bewaffneten Konflikts durch vorsätzliche Angriffe
auf die Zivilbevölkerung.
Zu den rechtsprinzipiellen Grenzen der Rechtfertigungsgründe Notwehr und Notstand im Kriegsvölkerrecht erläuterte Merkel: „Wer im Sinne einer (in Art. 39 UN-C integrierten)
Responsibility to protect bedrohten anderen Menschen mit militärischer Gewalt zu Hilfe kommt, reklamiert für sich den Rechtfertigungsgrund der Notwehr (Nothilfe). … Soweit nun aber diese
Nothilfe (auch) auf Kosten unbeteiligter Dritter durchgeführt wird, wie es bei jedem modernen militärischen Konflikt vor allem im Hinblick auf die vielfach in Mitleidenschaft gezogene
Zivilbevölkerung des angegriffenen Staates unvermeidlich ist, kommen zur Rechtfertigung dieser externalisierten Lebens- und Leidenskosten Dritter nur die Prinzipien des aggressiven Notstands in
Frage“ (ZIS 2011 S. 777). Denn zwar gelte: „Gegen einen völkerrechtlich illegitim gewordenen Staat haben andere Staaten keine Pflicht mehr zur Respektierung seiner Souveränität, und das gewaltsame Vorgehen gegen die Mitglieder und Helfer des illegitimen Regimes selbst ist vom Nothilferecht zu Gunsten der drangsalierten Bevölkerung gedeckt. Was aber gleichwohl unverändert fortbesteht, sind rechtliche und rechtsethische Pflichten gegenüber allen anderen Mitgliedern der Bevölkerung und damit auch solchen gegenüber, die eine gewaltsame Intervention ablehnen. Sie werden gegen ihren Willen zu Zwangsleidtragenden der gewaltsamen Hilfe für andere gemacht: Wer bedrohten Menschen helfen will, legitimiert sich allein aus einer Norm, die es unter keinen Umständen erlaubt, dafür unschuldige Dritte zu töten“ (ZIS 2011, 779, 780). „Was jemandem, der in Notwehr um seine Existenz kämpft als zwar objektives Unrecht gleichwohl persönlich nachgesehen werden kann, liefert für die Nothilfe eines fernstehenden Dritten, dessen eigene Interessen nicht tangiert sind, keinen
Entschuldigungsgrund“ (Merkel 2000, S. 73/74, 93).
Vom positiven humanitären Völkerrecht werde allerdings in einem militärischen Konflikt die Tötung unbeteiligter Dritter („kollateraler“ Opfer) über das Legitimationskriterium der „militärischen
Notwendigkeit“ grundsätzlich für rechtfertigungsfähig erklärt. Auch nach dem positiven Völkerrecht der Genfer Konventionen und ihres 1. Zusatzprotokolls sind aber Kriterien zur Abwägung im
konkreten Einzelfall notwendig. Die Schwellenkriterien seien im Report von 2004 des „High Level Panel“ formuliert worden. Militärische Gewalt ist danach im Einzelfall nur legitimierbar (1.) bei einer hinreichenden Bedrohung der betroffenen Bevölkerung mit schweren, flächendeckend begangenen völkerrechtlichen Verbrechen („seriousness of threat“), (2.) zu einem angemessenen Zweck, nämlich dem der Hilfe für die bedrohten Menschen („proper purpose“), (3.) als dafür unbedingt erforderliches Mittel („last resort“), (4.) das im Hinblick auf Ausmaß, Dauer und Intensität der Kriegshandlungen angemessen ist („proportional means“), (5.) sowie in einer umfassenden Abwägung mit den Kriegsfolgen einen klaren Vorteil der Gewaltanwendung im Vergleich zum Untätigbleiben für die betroffene Bevölkerung hinreichend wahrscheinlich macht („reasonable balance of conseqences“) (ZIS 2011 S. 779).
2. Podiumsdiskussion zum Verhältnis von Gewalt- und Interventionsverbot und Menschenrechten, ua kodifiziert in den beiden Menschenrechtspakten von 1966, und den Folgerungen bei einer Blockade des Sicherheitsrats
Dissens zum Verhältnis von Gewalt- und Interventionsverbot und Menschrechten:
Paech lehnt ein militärisches Eingreifen aus humanitären Gründen grundsätzlich ab. Zum Verständnis dieser Position wird eine frühere Erläuterung von Paech zitiert: „Der Hebel der Menschenrechte ist zu schwach, um das zwingende Gewalt- und Interventionsverbot der Art. 2 Ziff. 4 und 7 UNO-Charta durchbrechen zu können. Die Bedeutung des ius cogens (zwingendes Recht) liegt darin, dass es auch durch Vertragsrecht nicht aufgehoben – und nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann (Art. 53 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge). Die beiden Menschenrechtspakte sind jedoch lediglich einfaches vertragliches Völkerrecht ohne zwingenden Charakter. Bei einem Widerspruch zu den Regeln der UNO-Charta gehen diese jedoch vor (Art. 103 UNO-Charta). Die einzig rechtlich aber auch politisch überzeugende Lösung wäre, die sog. humanitäre Intervention als dritte Ausnahme vom Gewaltverbot in die UNO-Charta einzubauen. Dazu bräuchte es jedoch eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen in der UNO-Generalversammlung, die derzeit nicht zu erreichen ist“ (VDJ-Konferenz 2010, Norman Paech – Responsibility to Protect, Souveränität, Menschenrechte; so schon 1999 „Humanitäre Intervention und Völkerrecht“, in: Albrecht, Schäfer (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg, S.82, und jüngst „Libyen und das Völkerrecht“ sowie „Streitgespräch zu Responsibility to Protect zwischen Michael Daxner und Norman Paech“, in: Becker, Sommer, Der Libyen-Krieg, 2.Aufl. 2013, S.61 ff, 77 ff).
Merkel argumentiert: Das in Art. 2 Abs. 4 VN-Ch fixierte Gewaltverbot ist Voraussetzung jeder Völkerrechtsordnung. Legitime Erlaubnisse zur Gewalt zwischen den Staaten können nur im
normativen Modus von Notrechten begründet werden. Solche sind in den Art. 39 und 42 VN-Ch und Art. 51 VN-Ch geregelt, die Zwangsbefugnisse zur Verhinderung des rechtsverletzenden Zwanges
anderer begründen. Es sei daher auch bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Einzelfall abzuwägen, ob Nothilfe zulässig ist, weil: „Rechte und Pflichten der UNO-Charta (und des
Völkerrechts überhaupt) sind nicht mehr ausschließlich die Angelegenheit von Staaten bzw. Staatengemeinschaften oder zwischenstaatlichen Organisationen. Das heutige Völkerrecht erkennt in
verschiedenen Zusammenhängen auch ethnische und andere Gruppen, ja sogar Individuen als Inhaber überstaatlich verbindlicher Rechtspositionen an, solcher nämlich, die fundamentale Menschenrechte und Freiheiten schützen. Staatlich organisierte Vertreibungen und erst recht willkürliche Tötungen ‚eigener‘ Bürger verletzen damit nicht nur objektives Völkerrecht, sondern internationale subjektive Rechte der Opfer. … Schlussfolgerung: Solche staatlichen Aktionen sind rechtswidrige Angriffe gegen völkerrechtliche notwehr- und nothilfefähige Rechtspositionen“ (so Merkel 2000 S.81).
Von Sponeck wertete das Konzept der RtoP, dem Schutz der Menschenrechte Vorrang vor der staatlichen Souveränität beizumessen, als Verbesserung des Instrumentariums des Sicherheitsrats zur
Entscheidungsfindung. Wegen des von den NATO-Staaten hinsichtlich des Schutzes der Menschenrechte praktizierten Doppelstandards sei aber grundsätzliches Misstrauen gegenüber der
Berufung der Vereinten Nationen auf die RtoP zur Rechtfertigung von Militäreinsätzen begründet.
Weiterer Dissens für den Fall, dass der Sicherheitsrat blockiert ist, eine Resolution zu beschließen:
Paech verlangt, dass für militärische Interventionen als normatives Verfahrens-Korsett nur der Sicherheitsrat ausnahmslos das Entscheidungsmonopol hat, wie es auch die ICISS in ihrem Bericht
zur RtoP und die VN-Generalversammlung in ihrer Resolution auf dem Weltgipfel 2005 gefordert haben. Diese Auffassung vertrat auch Katja Keul, auch wenn dann manches Mal bei gravierenden
Menschenrechtsverletzungen tatenlos zugeschaut werden müsse. Ein Eingreifen ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat sei nur vorstellbar, wenn Verfahren zur Überprüfung geschaffen würden.
Merkel widerspricht, weil bewaffnete humanitäre Interventionen, die diese Bezeichnung verdienen, Hilfskriege zugunsten rechtswidrig bedrohter Dritter sind. Das bedeute normativ: Sie sind eine Form der Wahrnehmung von Notrechten, oder genauer: des Rechts auf Nothilfe. Notrechte seien aber Selbsthilferechte, und das heißt, sie sind gerade dadurch definiert, dass ihre Verwirklichung außerhalb der legitimen Verfahren einer rechtlichen Friedensordnung durchgesetzt werden kann. Wenn der Sicherheitsrat wie im Falle des Völkermords in Ruanda durch Uneinigkeit blockiert ist, eine Resolution zu beschließen, dann dürfe ohne eine Resolution des Sicherheitsrats interveniert werden.
Dem hält Paech entgegen, eine völkerrechtlich anerkannte Nothilfeberechtigung bei Untätigkeit des Sicherheitsrates bestehe nicht und widerspreche schon rechtsdogmatisch dem in der UNO-Charta verankerten Notwehrrecht (Art.51). Dieses bestehe nur zwischen den Staaten bei einem unmittelbaren „bewaffneten Angriff“. Es sei rechtstheoretisch unzulässig, die auf das Individuum bezogenen Regeln des Strafrechts auf die Staatenebene der kollektiven Völkerrechtsregeln zu transponieren. Selbst wenn das Individuum in der Tat durch die zahlreichen Menschenrechtsregeln eine viel stärker gesicherte und hervorgehobene Position nach 1945 erhalten habe, so habe es dennoch keine dem Staat vergleichbare völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit. Seine Rechte richten sich ausschließlich gegen den eigenen Staat. Paech betonte erneut, dass alle menschenrechtlichen Verträge und Kodifikationen gegenüber der UNO-Charta nachrangig seien (Art.103 UNO-Charta). Ein völkerrechtliches Nothilferecht für eine Bevölkerung gegen deren Staat existiere daher nicht. Diese Regelung des Art. 51 UNO-Charta möge kritisierbar sein. Ihr Sinn sei es aber, dass sowohl natürlichen als auch juristischen Personen nicht die gleichen Rechte und Pflichten wie Staaten zukommen sollen. Weder die sog. „humanitäre
Intervention“, noch die “Resonsibility to protect“ und auch ein „Nothilferecht“ kommen als
Rechtsgrundlage für eine Intervention in einen anderen Staat in Betracht und können diese
rechtfertigen.
Dieter Deiseroth (Richter am Bundesverwaltungsgericht) vertrat die Auffassung, dass das Konzept der RtoP nicht zum Bruch der VN-Charta berechtige. Er problematisierte deshalb die von Merkel vorgenommene Gegenüberstellung von Legitimität contra Legalität als konkurrierende, angeblich gleichwertige Rechtsgrundsätze. Nur für die Legalität einer militärischen Intervention gäbe es formelle und materiell-rechtliche Kriterien in Gestalt der Regelungen der VN-Charta; einerseits das Autorisierungsmonopol des Sicherheitsrats nach Art. 39 und 42 VN-Ch, andererseits die
Voraussetzungen des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Ch. Das Überspielen von Legalität unter Berufung auf eine angenommene oder behauptete Legitimität sei „brandgefährlich“: In Deutschland hätten damit nicht nur „Naturrechtler“, sondern insbesondere auch Carl Schmitt und seine Epigonen hantiert, letztere um für die Exekutive hinderliche „normative Fesseln“ zu sprengen. Selbst die Berufung auf hehre Ziele wie den Schutz der Menschenrechte könne und dürfe die Missachtung der VN-Ch nicht rechtfertigen. Die Pflicht von Hoheitsträgern zur Beachtung von Legalität sei eine zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit. Die Berufung auf Legitimität contra Legalität verkenne zudem, dass gerade bei den Konflikten wegen einer militärischen Intervention zum Schutz von Menschenrechten in aller Regel die Faktenlage umstritten sei. Wenn eine nach den Kriterien von RtoP gebotene Beschlussfassung des UN-Sicherheitsrats (SR) nach Art. 39 und 42 VN-Ch zum Schutz von Menschenrechten im Rahmen des Konzepts RtoP nicht zustandekomme, gebiete es die unverzichtbare Achtung vor den Regelungen der Charta, innerhalb des Systems der Vereinten Nationen nach legalen Alternativen zu suchen. In Betracht kämen, 1. bei Handlungsfähigkeit oder –unwilligkeit des VN-SR die Anrufung der VN-Generalsversammlung (GV) mit dem Ziel einer ermächtigenden GV-Resolution nach dem Modell der „Uniting for Peace“-Resolution im Korea-Konflikt (1950/51), 2. mittels öffentlichen Meinungsstreites dem Sicherheitsrat angehörende Staaten zum Positionswechsel zu motivieren, 3. ggf. die Anrufung des Internationalen Gerichtshofes durch den Sicherheitsrat oder die VN-GV zu Fragen des Völkerrechts und des Fact-finding-Verfahrens.
Khan (Bundeswehruniversität München) gab zu bedenken, dass sich die Legalität nicht auf das positive Recht reduzieren lasse. Es gäbe extreme Notlagen, aus denen mittels des positiven Rechts
kein Ausweg möglich ist. Angesichts einer solchen Konstellation habe Radbruch zu Recht dafür plädiert, dass das vorstaatliche existenzielle Recht auf Schutz der Menschlichkeit dem positiven Recht
vorgehen müsse. Merkel ergänzte: Die Notrechte der Notwehr und der Nothilfe und des rechtfertigenden Notstandes seien fundamentale Rechtsprinzipien, die international gültig und von ihrer Positivierung in den nationalen Rechtsordnungen nicht abhängig sind.
3. Zur rechtlichen Beurteilung der vom Sicherheitsrat autorisierten militärischen Intervention in Libyen:
Merkel hält die Intervention für rechtswidrig, weil 1. eine hinreichende Bedrohung der Bevölkerung mit schweren, flächendeckend begangenen völkerrechtlichen Verbrechen nicht bestanden habe, 2. die Resolution 1973, die „jeden Mitgliedstaat der UNO und jede regionale Staatenorganisation“ autorisierte, „alle erforderlichen Maßnahmen anzuwenden, um Zivilisten und von Zivilisten besiedelte Gebiete in Libyen, die von Angriffen bedroht sind, zu schützen“, grob unbestimmt hinsichtlich der zulässigen Mittel und der zur Gewaltausübung befugten Staaten und mit rechtsstaatlichen Anforderungen nicht vereinbar sei, und 3. die Resolution nur zum Schutz der Zivilbevölkerung, nicht aber zum Regime-change ermächtigt habe, wobei Merkel erst den Einsatz von Gewaltmitteln für den Zweck des Regime-change durch die militärische Unterstützung der Aufständischen mittels Luftangriffen auf das Regierungsmilitär für rechtswidrig hält. 50.000 Tote, die Opfer der Luftangriffe aus großer Höhe geworden seien, seien der Gewaltanwendung zwecks Regime-change anzulasten.
Mit Ziff. 1 und 2 begründet Merkel die materielle Illegitimität der formal legalen Resolution. Mit Ziff. 3 begründet er die Rechtswidrigkeit der militärischen Intervention hinsichtlich ihrer Dauer und der eingesetzten Gewaltmittel.
Paech hält die Intervention für rechtswidrig, weil die NATO-Staaten die Resolution für ihre weitergehenden Ziele des Regime-change missbraucht hätten. Er wies daraufhin, dass der
südafrikanische Präsident Tabo Mbeki sich als Sprecher der Afrikanischen Union bitter darüber beklagt habe, dass die NATO nicht genügend Zeit für politische Iniatiativen zur Vermittlung gelassen
habe; ferner dass der französische Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte bereits Ende März 2011 verkündet habe, dass das Ziel der Resolution, der Schutz der Zivilbevölkerung mittels der Einrichtung der Flugverbotszone, erreicht sei.
D. Anmerkungen der Rapporteurin
Zur Faktenlage: Es wurden wenige Fakten mitgeteilt, von denen für Ziff. 1 und 3 der Beurteilung der Intervention in Libyen durch Merkel auszugehen ist.
Die Chronologie der Ereignisse in Libyen in der Zeit Mitte Februar 2011 bis Mitte März 2011 ist gekennzeichnet durch die zeitliche Abfolge von militärischen Attacken auf unbewaffnete
Demonstranten, hierdurch Hunderten Getöteten, durch die Bildung von Bürgerkomitees zur Selbstverwaltung in mehreren Städten und die Eroberung dieser Städte durch Angriffe des
Regierungsmilitärs auf ihre Wohngebiete mit Kampfflugzeugen, Panzerartillerie und schweren Waffen und infolgedessen weiteren Hunderten von Toten und die auf dieselbe Art bevorstehende Eroberung Bengasis; ferner, nach Durchsetzung des Flugverbots für die libyschen Luftstreitkräfte durch die intervenierenden Staaten, durch die fortgesetzte Belagerung oppositioneller Städte wie Misrata und militärische Angriffe auf deren Wohngebiete durch das Regierungsmilitär mit tausend zivilen Opfern.
Es wurde nicht erläutert, ob die militärischen Angriffe auf die oppositionellen Städte vor der Intervention für das Kriterium „flächendeckend begangene völkerrechtliche Verbrechen“ nicht
genügten. Es wurde auch nicht erläutert, wie während der Intervention anders als durch Luftangriffe auf das Regierungsmilitär die Bevölkerung dieser Städte vor ihrer Eroberung geschützt werden
konnte.
Zudem wurde im Herbst 2011 von der libyschen Regierung die Gesamtzahl der Todesopfer mit 25.000 – und nicht mehr mit 50.000 wie unmittelbar nach dem Ende der Kämpfe – angegeben (Telepolis v.9.1.2013). Nach Recherchen des libyschen Gesundheitsministeriums bei Spitälern, Beamten vor Ort und ehemaligen Kommandanten der Rebellentruppen sind 30.000 Menschen ums Leben gekommen und 50.000 bei Kämpfen verletzt worden (NZZ-online v. 8.9.2011, taz v.27.10.2011). Als zivile Opfer der Luftangriffe wurden von einer Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates 60 Zivilisten bei fünf Luftangriffen ermittelt. Im Januar 2013 teilte die libysche Regierung mit, dass in den acht Monaten des Jahres 2011 4.700 Rebellen starben, die Zahl der getöteten Regierungssoldaten werde ebenso hoch geschätzt, 2.100 Personen beider Lager werden vermisst. Noch immer unklar sei, wie viele Zivilisten ihr Leben verloren (Telepolis v. 9.1.2013).
Das Problem, von welcher Faktenlage auszugehen ist, stellt sich als Problem für die Nachvollziehbarkeit und Überzeugungskraft der rechtlichen Beurteilung dar.
Zur Problematik von Legitimität contra Legalität: Weil existenzielle Menschenrechte von Personengruppen und auch von Individuen heutzutage vom Völkerrecht als überstaatlich verbindliche subjektive Rechtspositionen anerkannt werden, sind staatlich organisierte Verbrechen gegenüber der Bevölkerung völkerrechtswidrige Angriffe auf diese Rechtspositionen. Die durch den Sicherheitsrat nicht autorisierte militärische Nothilfe seitens anderer Staaten für die durch innerstaatliche Gewaltexzesse bedrohte Bevölkerung ist jedoch in der VN-Ch nicht geregelt. In Art. 51 VN-C ist nur das Notwehr- und Nothilferecht der Staaten untereinander als naturgegebenes Recht zur Selbstverteidigung anerkannt. Vom Sicherheitsrat autorisierte humanitäre militärische Interventionen wurden von diesem deshalb mit einer Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit durch die innerstaatlich begangenen völkerrechtlichen Rechtsbrüche begründet. Die Begründung für die Nothilfeberechtigung für die betroffene Bevölkerung auch ohne Sicherheitsratsbeschluss lautet: Da die unveräußerlichen Menschenrechte wie das auf Leben und körperliche Unversehrtheit international gültige, fundamentale und von ihrer Positivierung unabhängige Rechtspositionen seien, müsse dasselbe für die Notrechte der Notwehr und der Nothilfe zu ihrer Verteidigung gelten. Diese könnten daher nicht von einer Autorisierung durch den Sicherheitsrat abhängig sein. Hieraus folge die subsidiäre Berechtigung zur militärischen Nothilfe ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat.
Die Kritik an dieser Begründung behauptet, hierdurch würden die Regelungen der legalen Verfahrensordnung der Charta der Vereinten Nationen in fataler Carl Schmittscher Tradition durch
willkürlich als höherrangig behauptete materielle Grundwerte ersetzt.
Carl Schmitt hat in „Legalität und Legitimität“ (1932) einen unversöhnlichen Widerspruch zwischen den wertneutralen und bloß formellen Regelungen des ersten Teils der Weimarer Reichsverfassung zu den materiell-rechtlichen Schutzbestimmungen des zweiten Teils behauptet, zwischen der prinzipiellen Wertneutralität des funktionalistischen Legalitätssystems und der prinzipiellen Wertbetonung inhaltlicher Verfassungsgarantien; und forderte die Beendigung der funktionalistischen Wertneutralität der parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebung mit der Fiktion gleicher Chancen für unterschiedslos alle Inhalte, Ziele und Strömungen, außerdem die Entfernung der sozialen Verbürgungen und politischen Freiheitsrechte aus dem Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung und stattdessen die Anerkennung der verfassungsfremden substantiellen Werte des deutschen Volkes als Inhalt der Legalordnung. Demgegenüber hat der Gesetzespositivismus der herrschaftskritischen Rechtswissenschaft in der Weimarer Republik die Befolgung der wertneutralen formellen Regelungen als Voraussetzung für die Legalität von Entscheidungen verteidigt und dennoch als „Naturrechtler“ die, auch ideen- und realgeschichtliche, Koppelung der demokratischen Strukturprinzipien mit den Grundrechten auf Freiheit und Gleichheit als stets zugrundegelegte überpositive, naturrechtliche, Maßstäbe zur Beurteilung formal korrekt zustande gekommener Entscheidungen betont.
Im Unterschied zur Berufung Carl Schmitts auf verfassungsfremde deutsch-völkische Werte wird die Nothilfeberechtigung für eine innerstaatlich völkerrechtswidrig angegriffene Bevölkerung mit der Verteidigung von international als unveräußerlich anerkannten, existenziellen und naturgegebenen Menschenrechten begründet, die kodifiziert sind und deren Beachtung gemäß Art. 1 Ziff. 3 VN-Ch Ziel der Vereinten Nationen und Aufgabe des Sicherheitsrats ist. Außerdem soll über die Nothilfeberechtigung einer Bevölkerung primär vom Sicherheitsrat und damit innerhalb der legalen
Verfahrensordnung entschieden werden. Nur im Konfliktfall, wenn der Sicherheitsrat wegen Uneinigkeit nicht handeln kann oder aus politischen Gründen nicht handeln will, soll wegen der für
den globalen Rechtszustand konstitutiven Bedeutung der existentiellen Menschenrechte, die ohne Verfahrensgarantien zu ihrer Verteidigung ihre Verbindlichkeit verlieren, analog Art. 51 VN-Ch ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat militärisch interveniert werden dürfen. Dh nur für den Fall, dass die Entscheidung des Sicherheitsrates zwar formal legal, materiell aber illegal ist, weil nur macht- oder interessenpolitisch begründet und nicht an den Rechtsgeboten der VN-Ch und der Völkerrechtsnormen orientiert, soll diese militärische Nothilfe zulässig sein.
Dieser Konflikt zwischen Legalität und Legitimität wegen der verfahrensrechtlich nicht zu beanstandenden Negierung der Nothilfe zur Verteidigung der bedrohten existentiellen Menschenrechte
einer Bevölkerung durch den Sicherheitsrat unterscheidet sich grundlegend von der von Carl Schmitt in der Weimarer Republik propagierten Absage sowohl an die verfassungsrechtlichen
Verfahrensregeln als auch an die verfassungsrechtlichen Grundwerte zugunsten einer umfassend ermächtigten Exekutive als Legalordnung.
Resümee der Rapporteurin
Die Kontroverse zur Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention zum Schutz von Menschenrechten ohne vorherige Autorisierung des Sicherheitsrates behält grundsätzliche und folgenpraktische Bedeutung. Insbesondere eine fehlende Zustimmung im Sicherheitsrat signalisiert, dass es zweifelhaft ist, ob eine Intervention tatsächlich dem Schutz einer Bevölkerung vor, von der eigenen Regierung an ihr flächendeckend begangenen, schweren völkerrechtlichen Verbrechen dienen und im Hinblick auf Ausmaß, Dauer und Intensität angemessen bleiben kann (Schwellenkriterien 1 bis 4 der RtoP). Diese Zweifel beeinflussen die erforderliche umfassende Abwägung, ob trotz der Kriegsfolgen die Gewaltanwendung im Vergleich zum Untätigbleiben einen klaren Vorteil für die betroffene Bevölkerung hinreichend wahrscheinlich macht (Schwellenkriterium 5 der RtoP). Wegen des fundamentalen Legitimitätsproblems humanitär begründeter Kriege – töten um zu retten – wird diese Abwägung zumeist das Unterlassen militärischen Eingreifens ratsam machen. Auch für die
Folgenverantwortung für ein, dem Konzept der RtoP inhärentes, Building, womit die Vorkehrungen und Hilfeleistungen für die, für einen nachhaltigen Frieden erforderlichen, innergesellschaftlichen Strukturen gemeint sind, dessen anspruchsvolle Voraussetzungen Senghaas mittels des zivilisatorischen Hexagons aufgezeigt hat, ist die Abwägung erforderlich zwischen den
voraussichtlichen Schäden infolge der militärischen Gewaltanwendung und den voraussichtlichen Folgen, wenn eine solche unterbleibt . Die Vereinten Nationen sind in beiden Fällen mit den Folgen
konfrontiert und für diese gemäß der VN-Ch verantwortlich. Es ist daher auch zu bedenken, worauf Merkel hingewiesen hat, welche Folgen es für die Bedeutung der existentiellen Menschenrechte hat, wenn ein Staat die Grundrechte seiner Bürger auf Sicherheit von Leib, Leben, elementarer Freiheit und Heimat systematisch und flächendeckend zerstört: Bliebe ein solcher Normbruch weltweit ohne Reaktion, dann zöge das den Beginn einer Erosion der Normgeltung nach sich.