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Syrien und der Schutz vor Massenverbrechen.

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Syrien und der Schutz vor Massenverbrechen. Tod, Scheintod und Neuanfang der R2P

Von Lothar Brock

In den offiziellen Verlautbarungen zum Syrienkonflikt gibt es nur einen „dünnen“ Bezug auf die „Responsibility to Protect“ (R2P). Ist die Idee der Schutzverantwortung am Ende? Man könnte es angesichts des Debakels der internationalen Syrienpolitik annehmen. Die R2P ist ja sogar schon im Augenblick ihres höchsten Triumpfes, d.h. im Anschluss an die Intervention in Libyen, von einigen Beobachtern des Zeitgeschehens für tot – oder zumindest für fast tot oder scheintot – erklärt worden (vgl. dazu den HSFK-Report von Dembinski und Reinold). Aber das muss nicht so sein. Wenn sie die Menschenrechte und sich selbst ernst nimmt, darf die internationale Gemeinschaft nicht über Massenverbrechen hinwegsehen. Statt die R2P zu begraben, sollte das Syrien-Debakel zum Anlass genommen werden, über Grundfragen des internationalen Schutzes von Menschen vor innerstaatlicher Gewalt neu nachzudenken.

 

Grundlegende Dilemmata

 

Im März 2012 schrieb Jonathan Tepperman, geschäftsführender Herausgebe des Foreign Affairs Magazine, in der New York Times: „Syrien ist ein tief gespaltenes Land (…). Füge den bestehenden Konflikten etwas Schießpulver hinzu und du hast das Rezept für einen hässlichen Bürgerkrieg. Ein solcher Bürgerkrieg würde alles in den Schatten stellen, was die Menschen in Syrien bis jetzt erlebt haben“ (Artikel). Inzwischen ist dem Konflikt ziemlich viel Schießpulver aus internationalen Quellen hinzugefügt worden. Und die Zahl der Toten stieg von 7.500 im Frühjahr 2012 (als Teppermann seinen Artikel schrieb) auf 100.000 im Sommer 2013.

 

Teppermann argumentierte, das Problem liege in der halbherzigen Form der Intervention. Entweder man engagiere sich mit allem, was man militärisch zu bieten habe, oder man bleibe draußen. Das klingt plausibel, geht aber davon aus, dass begrenzte Handlungsmöglichkeiten durch umso größere Entschlusskraft kompensiert werden können. Aber die fehlende Entschlusskraft der Politik, das Eine oder das Andere konsequent zu tun, hängt eben auch mit dem Auseinanderklaffen von Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten zusammen. Bei den Handlungsmöglichkeiten geht nicht nur um das Veto im Sicherheitsrat; denn selbst wenn es ein Votum für eine Intervention im Falle Syriens gäbe, war der Ausgang (wie im Falle Libyens) ungewiss. Wichtiger als das Veto sind denn auch die grundlegenden Dilemmata des internationalen Schutzes vor exzessiver innerstaatlicher Gewalt. Dazu gehören das in die UN-Charta eingebaute Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechtsschutz und Friedenspflicht, die unaufhebbare Vermischung von humanitären und anderen Motiven bei der Entscheidung über Schutzmaßnahmen und die Komplexität eines jeden Eingriffs von außen in innerstaatliche Gewaltverhältnisse.

 

Schutzverantwortung und Friedenspflicht

 

Art. 1 der UN-Charta benennt drei Ziele der Vereinten Nationen: die Wahrung des Friedens, die Pflege freundschaftlicher Beziehung zwischen den Mitgliedsländern auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung sowie die Förderung der Wohlfahrt aller Menschen und die Achtung ihrer Menschenrechte. Idealerweise ergänzen sich diese Ziele, und Fortschritte bei ihrer Verwirklichung verstärken sich wechselseitig. In der Praxis kommt es aber zu verhängnisvollen Zielkonflikten: Im Kosovo-Konflikt führte der von den Nato-Staaten in Anspruch genommene Schutz der Kosovaren vor exzessiver Gewalt zu einem Bruch der Friedenspflicht. Im Falle Libyens handelten die Nato-Staaten auf der Grundlage einer Autorisierung durch den Sicherheitsrat, taten dies aber in einer Art und Weise, die aus der Sicht vieler nicht-westlicher Länder über das UN-Mandat hinausging und von daher ebenfalls nicht mit den Regeln der kollektiven Friedenssicherung vereinbar war. Im Falle Syriens kann die Einhaltung der Charta-Regeln ebenso als Befolgung der Friedenspflicht wie als Scheitern des Menschenrechtsschutzes interpretiert werden. Umgekehrt wäre ein Eingreifen ohne Autorisierung ein Bruch der Friedenspflicht, der erneut (wie schon beim Irak-Krieg 2003) die Zukunft der kollektiven Friedenssicherung aufs Spiel setzen würde, ohne das sichergestellt werden könnte, ob es überhaupt zu irgendeinem Schutzeffekt für die Zivilbevölkerung käme.

 

Vermischung von humanitären und anderen Motiven

 

Bei der Politik gegenüber Syrien (wie gegenüber allen innergesellschaftlichen Notlagen) geht es immer auch um die Eigeninteressen der Außenstehenden. Eine humanitäre Notlage kann zum „Verkaufsargument“ (Barnett 2005, 731) für militärische Eingriffe werden, die überwiegend anderen Zielen dienen. In ähnlicher Weise kann die ganze Schutzdebatte auch als „Verkaufsargument“ für eine Völkerrechtspolitik dienen, die nicht darauf abzielt, das Völkerrecht weiterzuentwickeln, sondern darauf, die Fesseln, die die Charta der Vereinten Nationen den Einzelstaaten beim Gebrauch von Gewalt anlegt, zu lockern.

 

Aus diesen Sachverhalten ist jedoch nicht zu schließen, dass die Debatte über einen internationalen Beitrag zum Schutz von Menschen vor exzessiver innerstaatlicher Gewalt von vornherein als unglaubwürdig abgetan werden müsste. Politisches Handeln folgt immer „gemischten“ Motiven. Das ist kein Spezifikum von Eingriffen in humanitäre Notlagen. Zu den gemischten Motiven gehören zum einen der Auf- und Ausbau von normengeleiteten Handlungsroutinen, die der mittel- und langfristigen Senkung von Transaktionskosten dienen; und zum andern die Berücksichtigung unmittelbarer Handlungszwänge, die sich daraus ergeben, das je nach politischem System außenpolitische Entscheidungen gegenüber der eigenen Klientel oder der eigenen Bevölkerung vertreten werden müssen. In diesem Zusammenhang spielen auch Fragen der Glaubwürdigkeit eine Rolle. Jede Schutzmission geht folglich und notwendigerweise mit einer Kosten-Nutzenabwägung einher, in der ganz unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden.

 

Jenseits des rationalistischen Arguments ist zu bedenken, dass nationale oder sonstige Interessen nicht als extern vorgegebene Determinanten der Politik gelten können. Interessen nehmen erst im Kontext unterschiedlicher Ideen und Vorstellungen über eigenen Nutzen, gerechte Ordnungen und Standards angemessenen Verhaltens konkrete Gestalt an, wie der Sozialkonstruktivismus in den vergangenen Jahren zur Genüge herausgearbeitet hat. Das heißt, dass moralische Argumente, die von einzelstaatlichen Entscheidungsträgern vorgebracht werden, keineswegs darauf reduziert werden können, nur eine Fassade zu bilden, hinter der sich die „wahren Motive“ (Zugang zu Öl, Militärbasen oder Sonstigem) verbergen. Vielmehr ist von einer wechselseitigen Durchdringung von partikularen Interessen, identitätsstiftenden Ideen (sowie daraus abgeleiteten Rollenverständnissen) und universalistisch ausgerichteten Wertvorstellungen auszugehen. Das zeigt sich erneut in der Haltung des US-Kongresses gegenüber einer Militärintervention in Syrien und in der Feststellung Präsident Obamas zu seiner Syrienpolitik: „Es geht darum, wer wir sind“ (SZ vom 2. September).

 

In der Politik steht die Moral derjenigen, die für ein humanitäres Engagement sprechen, keineswegs gegen die Unmoral derjenigen, die sich dagegen wenden (oder umgekehrt). Hier geht es vielmehr um einen Diskurs, bei dem beide Seiten moralisch begründete Argumente vorbringen können. Zum andern ist von entscheidender Bedeutung, dass moralische Argumente ihrerseits zugleich politisch sind (Jahn 2012). Sie erwachsen aus und stehen für bestimmte Ordnungsvorstellungen und Weltordnungsprojekte, die sich von anderen Vorstellungen und Projekten unterscheiden.

 

Die Komplexität externer Eingriffe

 

Jede Entscheidung für ein militärisches Eingreifen neigt nach bisheriger Erfahrung dazu, die Machbarkeit des eigenen Unterfangens zu überschätzen. Das liegt an der Machtasymmetrie, die zwischen intervenierenden und „intervenierten“ Ländern besteht, denn es wird aus Gründen, die man klug, pragmatisch oder opportunistisch nennen mag, überhaupt nur unter der Bedingung der Machtasymmetrie eingegriffen. Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Militärapparat und den begrenzten militärischen Handlungsmöglichkeiten der anderen Seite, schürt die Erwartung, mit schnellem und entschlossenem Handeln den Gordischen Knoten der Gewalt zerschlagen und damit den Weg für durchgreifende gesellschaftliche Veränderungen bahnen zu können. Das erweist sich immer wieder als hoch problematisch. Militärische Interventionen folgen ihrer eigenen Logik, die nichts mit der Funktionsweise der Gesellschaft zu tun hat, in die interveniert wird. Je größer diese Diskrepanz, desto stärker die Vorstellung auf Seiten der Interventen, dass die „intervenierte“ Gesellschaft eine tabula rasa sei, die beliebig nach den eigenen Vorstellungen der Interventen gestaltet werden könne. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, wie alle Interventionen seit Beginn der 1990er Jahre zeigen und im Falle Syriens gerade auch von den westlichen Militärs (wie schon zuvor als Lehre aus „Afghanistan“) hervorgehoben wird.

 

So ist es in den vergangenen Jahren zu einer gewissen Ernüchterung gegenüber den Möglichkeiten konstruktiver militärischer Eingriffe in innerstaatliche Konflikte gekommen, denn „wir können nicht wissen, ob wir mit einer Intervention das Richtige tun, egal wieviel wir wissen und welchen Regeln wir folgen“ (Bulley 2011, 443). Das bedeutet zugleich, dass es ein fast aussichtsloses Unterfangen ist, die Verhältnismäßigkeit der Mittel mit der Sicherheit zu bestimmten, die die Anwendung dieses Abwägungskriteriums intendiert. Ob der Militäreinsatz in Libyen „verhältnismäßig“ war, wird von den einen genauso vehement vertreten wie von den anderen in Frage gestellt; denn in diese Frage müssen auch die mittel- und langfristigen Folgewirkungen der Intervention einbezogen werde.

 

Die R2P als Denkansatz

 

Die R2P wurde 2001 von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) erfunden, um die im Kosovo-Konflikt erneut zutage getretene Problematik des internationalen Schutzes von Menschen vor innerstaatlicher Gewalt zu klären. Ihr Angebot bestand bekanntlich in der Ausdifferenzierung der Aufgabenstellung (Responsibilities to prevent, to react, to rebuild) und einer Modifizierung des Entscheidungsprozesses über Zwangsmaßnahmen (Notwendigkeit der Autorisierung durch den Sicherheitsrat bei gleichzeitiger Einschränkung des Veto-Gebrauchs und der Einbeziehung der Generalversammlung sowie regionaler Organisationen). Die UN-Reformkonferenz von 2005 bestätigte die Grundidee, betonte aber stärker als der Entwurf der ICISS die vorrangige Schutzverantwortung jeder einzelnen Regierung und die vorrangige Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, die Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer Schutzverantwortung zu unterstützen. Damit wurden militärische Zwangsmaßnahmen noch weiter in den Hintergrund gedrängt als das beim ICISS-Entwurf der Fall war. Der Versuch, die Ausübung des Vetorechts der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates unter bestimmten Bedingungen einzuschränken, scheiterte jedoch nicht zuletzt aufgrund eines entsprechenden Einspruchs der USA.

 

In ihrer gegenwärtigen Fassung unterstreicht die R2P aber nicht nur die Eigenverantwortung der Regierungen sondern auch die Vereinbarkeit des internationalen Vorgehens gegen Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Souveränitätsanspruch der Einzelstaaten; sie verbreitert in konzeptioneller Hinsicht das Feld für nicht-militärische Schutzmaßnahmen, schließt aber militärische Maßnahmen nicht aus, sofern sie den Bestimmungen der UN-Charta entsprechen; sie spricht zwar Generalversammlung und Regionalorganisationen nicht ausdrücklich als mögliche Instanzen im Entscheidungsprozess über Schutzmaßnahmen an, nach Einschätzung des gegenwärtigen Generalsekretärs ist diese Möglichkeit jedoch weiterhin gegeben. Zusammengefasst: Die R2P ist zwar an die Stelle der unilateral ausgerichteten „humanitären Intervention“ getreten, sie bildet aber genauso wenig wie diese eine Norm im Rechtssinne, sondern vielmehr ein „politisches Prinzip“ (Ban Ki-moon). Sie kann die grundlegenden Dilemmata des internationalen Schutzes vor innerstaatlicher Gewalt nicht auflösen, bietet aber einen normativen Bezugsrahmen für die ausstehende internationale Verständigung über den Umgang mit diesen Dilemmata.

 

Was dabei das Verhältnis von Menschenrechtsschutz und Friedenspflicht betrifft, so besteht die Stärke der R2P darin, dass sie die hier bestehende Legitimationslücke kenntlich macht, statt sie z.B. mit dem von Fernando Téson vertretenen Argument zu überdecken, dass der Schutz der Menschenrechte nicht unter das Gewaltverbot falle, weil er zu einem der in der Charta genannten Ziele der Vereinten Nationen gehöre. Die R2P bietet keine Antwort auf die Legitimationslücke, sondern unterstreicht die Notwendigkeit, an dieser Antwort zu arbeiten und dabei auch die Reform der Entscheidungsverfahren im Sicherheitsrat erneute auf die Tagungsordnung der UN-Politik zu bringen.

 

Die R2P setzt ebenfalls keine Hinwendung der Politik zu Moral voraus, sondern bietet einen normativen Rahmen für staatenübergreifende Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Politik und Moral. Konkret geht es darum, gerade im Kontext der sich gegenwärtig vollziehenden Machtverschiebungen die Frage nach universellen Werten immer wieder neu zu stellen und dafür den Raum im Umgang mit massiven Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Dazu kann die R2P einen Beitrag leisten. Die Aufgabe besteht in einer kontinuierlichen Selbstaufklärung der Staatengesellschaft über die Bedingungen einer internationalen Rechtsordnung, die Raum für wechselseitige Anerkennung und Verständigungsprozesse lässt. Unter dieser Perspektive sollten die Auseinandersetzungen um „Syrien“ nicht auf einen Streit über mehr oder minder verborgene geopolitische Partikularinteressen der externen Akteure reduziert, sie müssten vielmehr auch als Ausdruck der unauflöslichen Wechselwirkung zwischen der Instrumentalisierung der Moral durch die Politik und der Selbstbindung der Politik an die Moral verstanden werden.

 

Was die Komplexität des internationalen Schutzes vor innerstaatlicher Gewalt betrifft, so bietet die Betonung der nicht-militärischen Aspekte des Schutzes einen Ansatz zur Reduzierung der damit für die betroffene Bevölkerung ebenso wie für die engagierten Staaten verbundenen Risiken. Von daher bietet die R2P ein gewichtiges Argument für den Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung und Krisenprävention. Im Bundestag ist dafür ein Unterausschuss eingerichtet worden, dessen Agenda in der kommenden Legislaturperiode ausgebaut werden sollte (HSFK-Memorandum zur Bundestagswahl 2013). Allerdings bedeutet eine fortschreitende Zivilisierung der Schutzverantwortung nicht eine Reduktion der Komplexität der Schutzaufgabe. Der zivile Schutz ist möglicherweise noch komplizierter als der militärische, wenn man die Vielschichtigkeit innerstaatlicher Handlungszusammenhänge berücksichtigt, die seit einiger Zeit verstärkt in den Blickpunkt der Forschung über unterschiedliche Formen der Staatlichkeit sowie kulturspezifische Konfliktdynamiken und –regelungsformen getreten sind. Ein Teil des Problems liegt jedoch auch darin, dass die zivile Konfliktbearbeitung immer noch als ungeliebtes Stiefkind der militärischen Sicherheitspolitik behandelt wird. Die Erfahrungen mit dem militärischen Schutz von Menschen vor massiver Gewalt sprechen dafür, die Gewichte zugunsten der zivilen Konfliktbearbeitung in Kombination mit Friedensmissionen, die auch eine militärische Schutzkomponente enthalten können, zu verschieben.

 

Literatur:

 

Barnett, Michael (2005): Humanitarianism Transformed. In: Perspectives on Politics 4, 723-740.

 

Bulley, Dan (2011): The Politics of Ethical Foreign Policy: A Responsibility to Protect whom? In: European Journal of International Relations 16/3, S. 441-461.

 

Jahn, Beate (2012): Humanitarian Intervention. What’s in a Name? In: International Politics 49: 1, S. 36-58.

Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de