Das Massaker von Kundus – Prozeß um Entschädigung der Hinterbliebenen
INTERVIEW/178: Quo vadis NATO? – Recht bleibt Recht – Karim Popal im Gespräch (SB)
Das Massaker von Kundus – Prozeß um Entschädigung der Hinterbliebenen
Interview am 27. April 2013 in Bremen
Vor der ersten Zivilkammer des Landgerichts Bonn hat ein Prozeß gegen die Bundesregierung begonnen, der in der Konsequenz nichts weniger als die gesamte deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan auf den Prüfstand stellt. Verhandelt wird in den nächsten Monaten über den verheerendsten Angriff in der Verantwortung deutscher Soldaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das Massaker von Kundus. Am 4. September 2009 kurz vor 2 Uhr morgens bombardierten zwei Kampfjets der NATO die beiden entführten Tanklaster. Dabei wurden laut Bundesverteidigungsministerium 91, nach Angaben Karim Popals 137 Zivilisten getötet. Der Bremer Anwalt vertritt insgesamt 79 Familienangehörige und fordert für jeden der vielen Toten eine Entschädigungssumme zwischen 20.000 und 75.000 Euro, insgesamt geht es um 3,3 Millionen Euro. Die Bundesregierung hatte zunächst geleugnet, daß es zivile Opfer gab, später mußte jedoch der zuständige Verteidigungsminister, Franz-Josef Jung, zurücktreten. Schließlich wurden 91 Opfer anerkannt, denen man jeweils pauschal 5000 US-Dollar zukommen ließ, ohne damit ein Schuldeingeständnis zu verbinden.
In dem laufenden Pilotverfahren fordern zwei Hinterbliebene aus Afghanistan von der Bundesrepublik Deutschland Schadensersatz für ihre bei dem Luftangriff ums Leben gekommenen Angehörigen. Ein Vater, dessen zwei Kinder bei der Bombardierung getötet wurden, sowie eine Mutter von sechs Kindern, die ihren Mann und Ernährer der Familie verlor, verlangen Entschädigungszahlungen in Höhe von 40.000 Euro beziehungsweise 50.000 Euro. Der sie vertretende Anwalt Karim Popal spricht von einem Verstoß gegen das Völkerrecht und wirft dem damaligen Kommandeur für Kundus, Georg Klein, eine grob fahrlässige Amtspflichtverletzung vor. Er habe trotz der Zweifel auf seiten der US-Jetpiloten die Bombardierung der Laster und der Menschenmenge veranlaßt. Videoaufnahmen eines Aufklärungsflugzeugs belegten, daß überwiegend Zivilisten an den feststeckenden Tanklastern versucht hatten, Benzin zu zapfen.
Oberst Georg Klein wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Weder leitete die Bundeswehr ein förmliches Disziplinarverfahren gegen ihn ein, noch wurde ungeachtet eines Untersuchungsausschusses des Bundestags und sogar einer Anzeige wegen Mordes Anklage gegen ihn erhoben. Statt dessen beförderte man ihn im Frühjahr 2013 zum Abteilungsleiter im neuen Bundeswehramt für Personalmanagement und hat ihn inzwischen zum Brigadegeneral ernannt. Kürzlich haben Antimilitaristen ein Plakat der Antikapitalistischen Aktion Bonn verklebt, das als eine Art Steckbrief gestaltet ist. Darin wird die Bevölkerung aufgerufen, Informationen zum Wohnort General Kleins herauszufinden. Es müsse möglich sein, politischen Protest vor seine Haustür zu tragen. Der Staat mache ihn als Leiter der Ausbildungsbehörde zum Vorbild für junge Soldaten, und seine Beförderung zum General signalisiere, daß er von offizieller Seite geschützt und belohnt werde. [1]
Auf dem Kongreß „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ vom 26. bis 28. April in Bremen gehörte Karim Popal zu den Diskutanten der Arbeitsgruppe IV zum Thema „Die Bombardierung der entführten Tanklaster bei Kundus und die rechtliche Aufarbeitung im Straf-, Disziplinar- und Amtshaftungsrecht“. Am Rande des Kongresses beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum Verfahren vor dem Bonner Landgericht.
Schattenblick: Herr Popal, wie ist der aktuelle Stand im Kundus-Prozeß?
Karim Popal: Wir haben einen Hinweis- und Beweisbeschluß erwirkt. Durch diesen Beschluß ist den Beklagten auferlegt worden, die von uns als Anhaltspunkte angegebenen Informationen insgesamt auf den Tisch zu legen. Das beinhaltet beispielsweise die 30minütige Aufnahme des Funkverkehrs der amerikanischen Piloten und die dazugehörenden Protokolle der Gespräche zwischen den Piloten und dem Kommando-Center. Das ist natürlich ein großer Erfolg, weil wir daran sehen können, inwieweit die Bundeswehr grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat. Des weiteren ist mit diesem Beschluß auch unser Ziel erreicht worden, daß das Landgericht sich für zuständig erklärt. Ferner hat sich das Landgericht nicht nur allein für zuständig erklärt, sondern auch die Passiv-Legitimation bejaht. Und daraufhin hat der Vorsitzende die Meinung vertreten, daß unsere Klagebegründung, nämlich Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland, in Frage kommt. Uns ist auferlegt worden, die Höhe der Klageanträge vorzutragen. Das ist der neue Stand im Kundus-Fall.
SB: Das ist ja schon ein großer Erfolg, nachdem die Vertreter des Verteidigungsministeriums verhindern wollten, daß die Klage angenommen wird.
KP: Ja, die Vertreter des Verteidigungsministeriums haben bisher ein sehr primitives Verhalten an den Tag gelegt. Von 2009 bis heute haben sie stets die Strategie verfolgt, Informationen zu verschleiern, sie für geheim zu erklären und keine Auskunft zu geben.
Werden Fragen aufgeworfen oder Ansprüche geltend gemacht, schützen sie Unkenntnis vor und streiten alles ab. Das ist natürlich ein ausgesprochen rechtswidriges Verhalten des Ministeriums. Auch vor der Eröffnung des aktuellen Verfahrens hat sich das Verteidigungsministerium darauf verlegt, Unkenntnis vorzuhalten und damit im Grunde zu bestreiten, daß bei Kundus Menschen gestorben sind. Die Vertreter des Ministeriums behaupten nach wie vor, daß nur wenig über die damaligen Vorfälle bekannt sei und sie daher keine Auskunft geben können. Das Verteidigungsministerium hat daher aus unserer Sicht verloren, weil es jetzt Auskunft geben muß. Und diese Auskunft betrifft nicht nur Kläger und Beklagte, sondern darüber hinaus die gesamte Bundesrepublik. Die deutschen Bürger müssen wissen, was dort geschehen ist und wie der damalige Verteidigungsminister Jung gehandelt hat.
SB: Wie ist die Stimmung unter den Angehörigen, die jetzt schon so viele Jahre warten mußten?
KP: Sie haben den Beschluß des Gerichts sehr begrüßt und uns gratuliert. Die Angehörigen sind natürlich von Tag zu Tag mehr betroffen. Es gibt inzwischen bereits 36 Waisenkinder, was darauf zurückzuführen ist, daß ihre Väter damals gestorben sind. Ihre Mütter waren junge Witwen, die leider von ihren männlichen Familienangehörigen gezwungen wurden, wieder zu heiraten. Die neuen Ehemänner haben aufgrund der herrschenden, aus meiner Sicht abzulehnenden Mentalität das fremde Blut nicht akzeptiert. Deswegen wurden zahlreiche Kinder zu Waisen, deren Leid sehr groß ist. Dennoch besteht Hoffnung, und diese Hoffnung ist deswegen für mich von großer Bedeutung, weil sich diese Menschen nicht den Taliban angeschlossen haben, sondern auf die deutsche Rechtsstaatlichkeit vertrauen. Diesen Erfolg wollte Verteidigungsminister Jung sozusagen mit Füßen treten, denn ihm wäre es egal gewesen, wenn sich 442 Angehörige dieser Opfer den Taliban angeschlossen hätten. Deswegen warten die Angehörigen zur Zeit auf Hilfe, und für sie ist natürlich jede schnelle Hilfe von vordringlicher Wichtigkeit, weil ihre Existenz tagtäglich gefährdet ist.
SB: Die Bundesrepublik hat, ohne irgendwelche Verantwortung zu übernehmen, eine sehr geringe Hilfszahlung geleistet, die offenbar kaum diesen Namen verdient.
KP: Ja, das war eine Hilfe, die aus unserer Sicht in gewisser Weise in Frage kommt. Gemeinsam mit meinen Kollegen, die mir in diesem Verfahren weiterhin als Berater zur Seite stehen, habe ich von Anfang an Druck ausgeübt, um eine Soforthilfe als Zeichen der Verhandlungsbereitschaft zu erwirken. Deswegen haben wir 2010 eine Winterhilfe auf den Weg gebracht, in deren Rahmen Lebensmittel verteilt wurden. Zudem wurde ein Betrag in Höhe von rund 4.000 Euro gezahlt, was nicht auf unsere Veranlassung, sondern die der Bundesregierung geschah. Offenbar dachte der damalige Verteidigungsminister Guttenberg, er könne Popal mit einem medialen Winkelzug aus dem Feld schlagen. Die Regierung behauptete, die Zahl der Toten sei ebenso ungeklärt wie mein Mandanten-Verhältnis. Von Regierungsseite wurden keinerlei Informationen preisgegeben, und was ich klärte, wurde seinerzeit heftig kritisiert. Dennoch habe ich die Mandanten informiert, und sie waren auf meiner Seite. Sie haben die von Verteidigungsminister Jung veranlaßte Hilfe angenommen, ohne sich damit abspeisen zu lassen. Diese Gelder wurden auf eine Art und Weise verteilt, die dazu führte, daß sie nicht bei unseren Mandanten gelandet sind, sondern bei fremden Männern, die sich als Vertreter von Witwen und Kindern ausgegeben haben. Es handelte sich auch nur um 5.000 Dollar, von denen letztendlich etwa 70 Prozent bei unseren Mandanten angekommen sind.
SB: Könnte das aktuelle Verfahren, sofern es hoffentlich gut ausgeht, auch eine Botschaft an die Bundesbürger sein?
KP: Natürlich, denn diese Klage dient nicht allein dem Zweck, eine Entschädigung der Opfer zu erwirken. Diese Klage soll auch die Bundesregierung und das Bundesverteidigungsministerium veranlassen, nicht die Vorgehensweise der Amerikaner zu kopieren und den Bürgern Informationen vorzuenthalten. Wir Deutschen haben genug Krieg erlebt. Wir haben nach unseren Kriegen eine sehr positive Entwicklung gemacht und sogar gesagt, daß vom Boden dieses Landes kein Krieg mehr ausgehen darf. Das sollte man nicht auf den Boden dieses Landes beschränken, sondern auch weltweit praktizieren, daß man keinen Krieg haben will. Dieser Krieg in Afghanistan ist überflüssig, er kostet die Bundesbürger viel Geld, die Soldaten haben umsonst im Interesse der Kriegsherrn und Drogenbarone ihr Leben verloren. Dieser Krieg ist tatsächlich sinnlos, und wenn wir jetzt durch unsere Zivilklage Auskunft herbeiführen, ist das auch eine Auskunft für die deutschen Bürger.
SB: Herr Popal, vielen Dank für dieses Gespräch.
Fußnote:
[1] http://www.jungewelt.de/2013/06-18/006.php
2. Juli 2013
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de