rss search

Das Ende der US-Dominanz?

line

arrow-back-1zurück

line

II16 Hauke Ritz

II16 Hauke Ritz

Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de

Vortragsmanuskript:

Das Ende der US-Dominanz? Neuste Debatten in den außenpolitischen Eliten der USA am Beispiel Zbigniew Brzezinskis 

von Hauke Ritz 

Guten Tag, liebe Kongressteilnehmerinnen und Teilnehmer. Mein Vortrag wurde mit dem Titel angekündigt: „Das Ende der US-Dominanz? Neuste Debatten in den außenpolitischen Eliten der USA am Beispiel Zbigniew Brzezinskis“. Doch bevor ich auf diese Debatte zu sprechen komme, muss ich zunächst auf die jüngere Vergangenheit eingehen. Damit meine ich vor allem den Zeitraum von 1989 bis heute. Denn erst vor dem Hintergrund der Politik der letzten 24 Jahre wird die Brisanz der erwähnten neuen geostrategischen Überlegungen verständlich. 

Als 1989 die Berliner Mauer fiel, brachen an amerikanischen Universitäten heftige Diskussionen aus. Bald schon tauchte der Begriff einer „unipolaren Welt“ auf. Die Welt des Kalten Krieges war bekanntlich eine bipolare Welt gewesen. Internationale Vereinbarungen mussten in ihr mühsam ausgehandelt werden. Doch die Welt nach dem Mauerfall versprach nun eine unipolare Gestalt anzunehmen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Charles Krauthammer sprach damals ganz offen vom „unipolaren Moment“, der eingetreten sei. Fortan sei die USA die einzige Macht, die in der Lage sei, im globalen Maßstab Politik zu gestalten. Westeuropa und Japan, aber auch den anderen Teilen der Welt bliebe nichts anderes übrig, als diesen Führungsanspruch anzuerkennen. Ganz ähnlich äußerte sich der US-amerikanische Philosoph Francis Fukuyama, der nahezu zur gleichen Zeit den Begriff vom „Ende der Geschichte“ prägte. Mit der Idee vom Ende der Geschichte bezog sich Fukuyama darauf, dass es jetzt nur noch ein einziges Zivilisationsmodell gäbe, nämlich die liberale und kapitalistische Demokratie US-amerikanischer Prägung. Und dass dieses Modell, einfach weil es das einzig verbliebene sei, sich nun durch wirtschaftliche Expansion zwangsläufig über den gesamten Globus ausbreiten müsste. Angesichts der Alternativlosigkeit der westlich liberalen Zivilisation kämen damit aber auch die geschichtlichen Kämpfe an ihr Ende. Schließlich würde auf diese Weise auch die Geschichte an sich aus dem Erfahrungshorizont der Menschen heraustreten. Doch ohne Bezug zur Geschichte würden diese schließlich die Fähigkeit verlieren, sich negativ von der bestehenden Ordnung abzugrenzen. Fukuyamas Rede vom Ende der Geschichte meinte somit letztlich den Sieg des affirmativen, geschichtslosen, ganz und gar auf seine persönlichen Belange konzentrierten und dadurch schließlich eindimensionalen Menschen. 

Doch weder Fukuyama noch Krauthammer blieben die Herren des von ihnen geschaffenen Gedankens. Bald schon nahmen sich die verschiedenen Experten der unterschiedlichen Fachgebiete der Idee einer unipolaren Weltordnung an. 

Die Ökonomen beispielsweise interessierte die Frage, wie die Weltwirtschaft in einer unipolaren Welt geordnet und beschaffen sein sollte. Es wurde relativ schnell deutlich, dass in einer solchen Welt Eigentumsrechte in einem globalen Maßstab geschützt werden müssten. Zudem wäre es dann auch erforderlich, die freie Beweglichkeit des Kapitals zwischen Landesgrenzen zu garantieren. Schließlich müsste überhaupt der Zugang zu Märkten sowie der Zugriff auf Rohstoffe im globalen Maßstab ohne übermäßige Begrenzung durch die Gesetzgebung der einzelnen Nationalstaaten sichergestellt werden. 

Den Völkerrechtlern wurde angesichts dessen bald klar, dass die damit notwendig gewordenen Prozesse der Rechtsangleichung legitimiert werden müssten. Und dass das Recht der Staaten auf Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten ohne Einmischung von außen, welches ja seit dem Westfälischen Frieden eine der wichtigsten Grundlagen des Völkerrechts ist, hier ein Hindernis darstellt. Dass also die Prozesse globaler Rechtsangleichung schwer durchsetzbar sein würden, wenn dieses Recht bestehen bliebe. Und so tauchte die Frage auf, ob es nicht andere Rechte gäbe, aus denen sich internationale Verpflichtungen ableiten ließen, die es wiederum erlauben würden, das bestehende Recht auf die Regelung der eigenen Angelegenheiten zu schwächen oder sogar aufzuweichen. Eine Bedrohung, aus der eine internationale Pflicht zum Eingreifen von außen abgeleitet werden konnte, war beispielsweise die Sorge vor der illegalen Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Eine andere Möglichkeit bestand darin, die Menschenrechte so weit aufzuwerten, dass im Falle ihrer Verletzung die Souveränität des Staates dahinter zurücktreten würde.

Und die Experten aus dem Militär dachten ebenfalls über die sicherheitspolitischen Implikationen einer unipolaren Weltordnung nach. Bald wurde für sie erkennbar, dass die militärische Sicherung einer unipolaren Weltordnung eine äußerst schwierige Aufgabe wäre. Sie würde, wenn überhaupt, nur möglich sein, wenn die USA ihre auf Jahre gesicherte Vormachtstellung dafür nutzen würden, eine sogenannte Revolution der Kriegsführung (Revolution of Military Affairs) durchzuführen. Kandidaten für eine solche Revolution der Kriegsführung waren vor allem zwei technische Neuerungen, nämlich sowohl die Entwicklung des Raketenschildes als auch die Weltraumbewaffnung. Durch sie hofften die USA einen so weitreichenden Rüstungsvorsprung zu erreichen, dass dieser weder von Russland noch von China mehr eingeholt werden könnte. Je teurer solche Rüstungsprojekte ausfallen würden, desto eher war sichergestellt, dass Russland und China den Rüstungswettlauf aufgeben müssten. 

Und schließlich gab es – und damit nähre ich mich dem eigentlichen Gegenstand meines Vortrags – noch eine weitere Gruppe von Fachleuten, die über die unipolare Welt nachdachten, nämlich die Geographen. Sie stellten sich die Frage, ob es eine geographische Logik der unipolaren Welt gäbe und wenn ja, wie diese beschaffen sei. Ob sich z.B. anhand der geographischen Gegebenheiten der Welt eine bestimmte geographische Route hin zu einer unipolaren Weltordnung beschreiben ließe. Denn wenn man das westliche Zivilisationsmodell über den gesamten Globus ausdehnen will, so macht es wenig Sinn, überall gleichzeitig zu beginnen. Schließlich gibt es bestimme Länder und Regionen, denen eine strategisch besondere Bedeutung zukommt. Bei ihnen müsste man deshalb beginnen.

Die Geografie der unipolaren Welt 

Unter den Geographen, die sich diese Überlegung zu eigen machten, war auch der Sicherheitsberater des ehemalige US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski. Für Brzezinski ist die Lage der Kontinente, Gebirgsketten und Meeresengen seit jeher von strategischer und politischer Bedeutung. Die 1990er Jahre waren für ihn nur ein willkommener Anlass, seine geographischen Kenntnisse auf die neue geopolitische Situation anzuwenden. 1997 trat er schließlich mit einer groß angelegten Untersuchung über die Geographie der unipolaren Welt an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel „The Grand Chessboard“ (Das große Schachbrett) – im Deutschen ist das Buch allerdings unter dem Titel „Die einzige Weltmacht“ erschienen – publizierte Brzezinski seinen Plan. Er sah die US-amerikanische Einflussnahme in einer bestimmten Schlüsselregion Eurasiens vor. Von dort aus sollte das westliche Zivilisationsmodell über den gesamten Globus ausgedehnt werden. Ich möchte Ihnen im Folgenden diesen Plan vorzustellen. 

Oft wird in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, ob Brzezinski als Person den wirklich so großen Einfluss auf die jüngere amerikanische Regierungspolitik gehabt hätte. Wir wissen es nicht und letztlich ist die Beantwortung dieser Frage auch zweitrangig. Wichtig ist, dass die Denkweise, für die er eintritt, die amerikanische Außenpolitik mit bestimmt hat. Sie repräsentierte in der Phase nach dem Ende des Kalten Krieges zum Teil das Zeitempfinden der außenpolitischen Elite. So haben seine Ideen auf die Regierungspolitik Einfluss genommen, sei es durch ihn selbst, durch seine Bücher, durch seine Schüler, Konkurrenten oder Nachahmer.  

Brzezinski wurde als Sohn eines polnischen Diplomaten geboren. In der späten Kindheit erfolgte die Emigration seiner Familie nach Kanada und später dann in die USA. Unter den amerikanischen Sicherheitsexperten ist er bis heute einer der wenigen, die zumindest gelegentlich in der Lage sind, die europäische Perspektive auf weltpolitische Zusammenhänge einzunehmen. Dennoch ist Brzezinski letzten Endes ein Hardliner, der an die unauflösliche Identität von Macht und Politik glaubt. 

Schon früh kreiste Brzezinskis Denken um die Möglichkeit einer Verschärfung des Kalten Krieges. Dieses unterschied ihn von Henry Kissinger, dessen Politik mehr auf die Erhaltung eines Status quo abzielte. Als Brzezinski von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater unter Jimmy Carter wurde, entwickelte er den Gedanken, dass es strategisch sinnvoll sein könnte, die Sowjetunion in einen langen Abnutzungskrieg zu verstricken, ähnlich jenem, den die USA in Vietnam erfahren hatten. Der Weg zu diesem Abnutzungskrieg sollte die mit saudischer Hilfe eingeleitete Destabilisierung Afghanistans sein, das damals im Einflussbereich der UdSSR stand. Als dadurch tatsächlich der Einmarsch der Sowjetunion erfolgreich provoziert werden konnte, wurde wiederum mit saudischer Hilfe ein endloser Zustrom an Dschihadkämpfern nach Afghanistan in die Wege geleitet. Den nur zwölf Jahre nach Beginn dieser Operation erfolgten Zusammenbruch der UdSSR betrachtete Brzezinski auch als sein persönliches Verdienst. 

Der amerikanische Ökonom James K. Galbraith hat einmal in einem Artikel geschrieben, dass es „eine Art Hobby für Brzezinski darstellen würde, Russland Schaden zuzufügen“. Dies spielte darauf an, dass Brzezinski auch nach dem Ende des Kalten Krieges damit fortfuhr, strategische Konzepte zu entwickeln, die eine geopolitische Schwächung Russlands zum Ziel hatten. In vielen seiner späteren Schriften setzte Brzezinski den Kalten Krieg unverhohlen fort, was auch an den Namen und Begriffen deutlich wird, die er für Russland erfand. Mal beschreibt er das Land als ein „Schwarzes Loch“, also als einen gescheiterten Staat, der um sein Überleben kämpft, mal als „das Land mit den unnatürlichen Grenzen“, das man demnach leichter in Grenzkonflikte verstricken könnte. Einmal denkt er sogar ganz offen über die Dreiteilung des Landes nach und spricht von einem „europäischen Russland“, „einer sibirischen Republik“ und „einer fernöstlichen Republik“. 

Brzezinskis Geographie der unipolaren Welt nimmt ihren Ausgangspunkt von der Lage der Kontinente. Er macht deutlich, dass der bloßen Anordnung der irdischen Festlandsmasse bereits eine politische Logik eingeschrieben ist. Betrachtet man die Weltkarte, so fällt auf, dass Europa und Asien zusammen den mit Abstand größte Kontinent bilden, nämlich Eurasien. Die Aufteilung dieser Landmasse in Europa und Asien ist vor allem von kultureller Bedeutung. Geographisch hingegen handelt es sich bei Eurasien um einen einzigen Kontinent. Seine Ausmaße sind gewaltig. Er ist fast doppelt so groß wie Afrika und sogar noch um ein Viertel größer als Nord-und Südamerika zusammen. Doch noch beeindruckender als die Ausdehnung ist die Bevölkerungszahl Eurasiens. In Eurasien leben alleine 4,62 Milliarden Menschen. Dies entspricht 65 % der Weltbevölkerung. Zum Vergleich: Auf dem afrikanischen Kontinent, der ebenfalls über eine gewaltige Fläche verfügt, lebt gerade einmal 1 Milliarde Menschen, etwas weniger als in Indien alleine. Noch deutlicher fällt das Missverhältnis auf, wenn man Eurasien mit dem amerikanischen Doppelkontinent vergleicht. In Nord- und Südamerika zusammengerechnet leben lediglich 921 Millionen Menschen. 

Doch Eurasien ist nicht nur wegen seiner Ausdehnung und großen Bevölkerungszahl von strategisch herausragender Bedeutung. Der Kontinent verfügt auch über das größte Vorkommen an Energierohstoffen. Der größte Teil davon konzentriert sich um den Persischen Golf und im Kaspischen Becken, also im Nahen Osten und in Zentralasien, wo mehr als die Hälfte der weltweiten Gas- und Ölreserven lagern. Zudem verfügt Eurasien noch über zwei der drei am weitesten entwickelten industriellen Zentren, nämlich Europa und Ostasien.

Doch auch in historischer Hinsicht ist der eurasische Kontinent von herausragender Bedeutung. Denn alle Großmächte, die bisher in der Lage waren, die Weltgeschichte zu beeinflussen, waren in Eurasien beheimatet. Das beginnt in der Antike mit den griechischen, römischen und persischen Großreichen und setzt sich fort mit Indien, China, der Mongolei, Russland, dem ehemals Osmanischen Reich sowie den westeuropäischen Seemächten Portugal, Spanien, den Vereinigten Niederlanden und Frankreich. Und in gewisser Weise sind auch die Inselmächte Großbritannien und Japan dem eurasischen Kontinent verbunden gewesen. Die erste Großmacht, von der man wirklich sagen kann, dass sie nicht in Eurasien beheimatet ist, sind die USA selbst. 

Hieraus leitet sich für Brzezinski aber auch die besondere Schwierigkeit ab, vor der die USA bei ihrem Bemühen stehen, ihre Weltmachtposition zu verteidigen. Nach Brzezinski setzt dies nämlich die US-amerikanische Hegemonie über den in so vielerlei Hinsicht bedeutenden eurasischen Kontinent voraus. Doch wie beherrscht man einen Kontinent, der so groß ist, über eine so zahlreiche Bevölkerung verfügt und zudem noch die traditionelle Heimat aller bisherigen Großmächte ist? Diese an sich schon enorme Aufgabe verkompliziert sich für die USA noch dadurch, dass sie selbst auf diesem Kontinent fremd sind. Man kann an dieser Stelle die Frage stellen, ob diese Aufgabe nicht überhaupt zu groß ist, um sie in Angriff zu nehmen. 

Erst Eurasien und dann die ganze Welt 

Und doch zeigte sich Brzezinski, als er 1997 seine Studie über die Geographie einer unipolaren Weltordnung vorlegte, zutiefst davon überzeugt, dass die USA angesichts ihres damals alleinigen Supermachtstatus in der Lage sein würden, diese Aufgabe zu meistern. Denn mit Westeuropa, so seine Argumentation, besäßen die USA bereits einen Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent. Der amerikanische Einfluss in Westeuropa sei seit 1945 fest etabliert. Gelänge es den USA, diesen Einfluss durch die Kombination einer EU – Osterweiterung mit einer NATO – Osterweiterung auszudehnen, so würde sich für die USA die Möglichkeit eröffnen, von Europa aus bis tief in den asiatischen Kontinent hinein ein „transeurasisches Sicherheitssystem“ zu errichten. 

Der Schlüssel hierzu wäre eine NATO – Mitgliedschaft sowohl der Ukraine als auch Georgiens. Eine NATO – Mitgliedschaft der Ukraine wäre entscheidend, um Russland aus Europa herauszuhalten. Immer wieder hebt Brzezinski hervor, dass Russland ohne die Ukraine nicht zu Europa gehören kann und im Fall einer Aufnahme des Landes in die NATO sich lediglich als eine asiatische Macht etablieren könnte. Die Mitgliedschaft Georgiens sei wiederum der Schlüssel, um Zentralasien für den amerikanischen Einfluss zu öffnen. Die Türkei ist bereits seit 1952 ein Mitglied der NATO. Träte nun auch Georgien dem Bündnis bei, so würde sich für die USA die Möglichkeit eröffnen, in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts nacheinander auch Aserbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan und schließlich auch Kirgisien, Tadschikistan, Kasachstan und Afghanistan stärker an sich zu binden. Maßgeblich hierfür wäre u.a. die Verlegung von Pipelinerouten. Durch sie könnten die zentralasiatischen Staaten ihre Gas- und Ölvorkommen unabhängig vom ehemals sowjetischen Netz nach Europa leiten. Hinzu träte die Errichtung von US-amerikanischen Militärbasen in der Region sowie generell eine Öffnung der zentralasiatischen Märkte für westliches Kapital. Mit der so hergestellten wirtschaftlichen Einflussnahme würden schließlich auch ein politischer und kultureller Einfluss einhergehen.

Wären diese 1997 von Brzezinski formulierten Ziele erreicht worden, so hätten sich die USA tatsächlich in einer sehr vorteilhaften Maklerposition befunden. Sie wären dann nämlich in der Lage gewesen, sowohl Russland als auch China von zwei verschiedenen Seiten aus militärisch einzudämmen. Zum einen hätte sich ihnen die Möglichkeit eröffnet, Russland und China aus dem Inneren der asiatischen Landmasse heraus, nämlich von Zentralasien aus einzukreisen. Während ihnen zum andern als weltweit führender Seemacht zusätzlich noch die Möglichkeit offen gestanden hätte, beide Staaten von der Küste aus unter Druck zu setzen. Da sie in diesem Fall sowohl die Handelsrouten zu Land als auch zur See weitgehend kontrolliert hätten, wäre insbesondere China – wollte es sich wirtschaftlich weiter entwickeln – früher oder später gezwungen gewesen, sich einem von den USA begründeten transeurasischen Sicherheitssystem anzuschließen. Auf diese Weise wären die drei wichtigsten industriellen Zentren der Welt, nämlich die USA, Europa und China durch eine gemeinsame Handels- und Sicherheitsstruktur miteinander verbunden gewesen. Die so hergestellte Ordnung hätte damit eine starke Anziehungskraft auf alle übrigen Länder Eurasiens ausgeübt. Eine in Eurasien verankerte politische und wirtschaftliche Sicherheitsstruktur wäre schließlich auch für die gesamte übrige Welt verbindlich geworden.

Somit war Brzezinskis Gedanke letztlich der, dass die USA ihren 1989 erworbenen Machtvorsprung nutzen sollten, um eine Weltordnung zu begründen, die aufgrund ihrer globalen Ausrichtung so stark sein würde, dass sie selbst den irgendwann eintretenden geopolitischen Machtverlust der USA überleben würde. Auf diese Weise wäre eine globale Ordnung entstanden, in der schließlich auch die amerikanische Kultur und das politische System der USA selbst dann noch fortgelebt hätten, wenn die USA selbst schon längst ihre Macht verloren hätten. Brzezinski führt als historisches Beispiel für eine solche Konservierung der Kultur eines Landes in einer länderübergreifenden Organisation das Fortleben des römischen Imperiums in der katholischen Kirche an.

Doch nun ist im Laufe der Zeit immer deutlicher geworden, dass dieser Plan gescheitert ist. Der 1997 noch vorherrschende Trend einer Verwestlichung der Welt, unter dessen Einfluss Brzezinski seine Thesen verfasst hatte, ist mit den Jahren immer mehr unter Druck geraten. Stationen dieses Verlusts an Einfluss sind die US-amerikanischen Reaktionen auf den 11. September 2001, der gescheiterte Krieg der USA im Irak, der genau das Gegenteil dessen wofür er geführt wurde bewirkt hat, und schließlich die mangelnde Fähigkeit westlicher Staaten im Allgemeinen, die 2008 eingetretene Finanzkrise zu lösen. Durch die Vorherrschaft partikularer Interessen hat der Westen die Rolle eines universalen Modells eingebüßt. Das hat auch Brzezinski registriert. Bereits in seinem 2007 publizierten Buch „Second Chance“ sucht er deshalb nach den Gründen für die immer stärker werdenden Widerstände gegen eine unipolare Weltordnung und gibt zunächst den Neokonservativen die Schuld. Diese hätten durch ihr offen imperiales Auftreten zu viele Widerstände geweckt. Dennoch beschwört er 2007 noch die Möglichkeit einer „zweiten Chance“ und hält somit zunächst an seinen 1997 formulierten Plänen fest. So heißt es an einer der entscheidenden Stellen des Buches: „Es ist entscheidend, dass Amerika seine zweite Chance nach [den Wahlen (Anm. H.R.)] 2008 erfolgreicher nutzt als seine erste, denn eine dritte Chance wird es nicht geben.“ 

In den Trümmern eines gescheiterten Weltentwurfs 

Doch vier Jahre später gesteht Brzezinski mit der Publikation seines jüngsten Buches „Strategic Vision“ das Scheitern einer unipolaren Weltordnung offen ein. Etwas verklausuliert bekennt er: „Amerikas Rolle […] muss in Zukunft angesichts der neuen Realitäten in Eurasien subtiler und verantwortungsbewusster ausgeübt werden. Dominanz durch einen einzigen Staat, egal wie mächtig er ist, ist nicht länger möglich, besonders seit neue regionale Mächte in Erscheinung getreten sind.“ Mit anderen Worten: Die Vorherrschaft der USA über Zentralasien ist zu einer Schimäre geworden. Doch damit können auch die industriellen Zentren USA, Europa und Ostasien nicht mehr in einer großen Sicherheitsstruktur vereinheitlicht werden. Stützen sich aber China und eventuell sogar Russland auf eine eigene, vom Westen unabhängige Sicherheitsstruktur, so kommt es damit zur Entstehung einer Weltordnung, die aus mehreren Polen besteht. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob Brzezinski auch für diese multipolare Welt einen Plan hat. Tatsächlich formuliert Brzezinski nun Konzepte, die an eine Ausweichstrategie erinnern. Ausgerechnet Russland, dessen Schwächung für ihn auch nach dem Fall der Berliner Mauer noch absolute Priorität besaß, wird jetzt zum strategischen Verbündeten erhoben. Damit der Bruch zu seinen früheren Schriften nicht zu deutlich wird, nennt Brzezinski diesen neuen Plan „Strategische Vision“. Er tritt nun für eine Integration Russlands in den Westen ein. Statt Russland wie bisher im Westen und Süden militärisch einzukreisen und aus Europa herauszuhalten, soll es nun zum Bündnispartner werden. Und mit Integration scheint Brzezinski diesmal tatsächlich Versöhnung und ebenbürtige Verhandlungen zu meinen. Denn anders lässt sich seine Vision eines Westens, der von Vancouver bis Wladiwostok reicht, nicht verwirklichen. Wie kann man diese sehr dramatische Kehrtwende, gerade vor dem Hintergrund seiner früheren Äußerungen gegenüber Russland, deuten? 

Der eigentliche Grund für seine Kehrtwende wird erstmals in seinem Buch „Second Chance“ aus dem Jahre 2007 vorformuliert und 2012 in „Strategic Vision“ noch einmal vertieft. Dort beschreibt Brzezinski, dass immer mehr Staaten und Regionen der Welt ein eigenes kulturelles Bewusstsein entwickeln. Damit einhergegangen sei eine zunehmende Bewusstwerdung der vorausgegangenen jahrzehntelangen Unterdrückung. Verbrechen während der Kolonialzeit treten nun genauso wieder ins Bewusstsein wie der Schuldenimperialismus der 1970er und 1980er Jahre. Hinzu kommen die Nahostkriege der letzten Dekade, der Krieg gegen den Terror mit seinen islamfeindlichen Implikationen sowie die unterlassene Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. 

Die in etlichen Bereichen vorherrschenden Doppelstandards westlicher Außenpolitik seien zudem in vielen Teilen der Welt als Verletzung der eigenen Würde empfunden worden. Dies trete nun ins kollektive Bewusstsein und habe in großen Teilen der südlichen und östlichen Hemisphäre eine gegen den Westen gerichtete Identitätsbildung angestoßen. Statt wie noch in den 1990er Jahren den USA und Europa nachzueifern, definieren sich nun immer mehr Staaten durch Abgrenzung zum Westen. Brzezinski gibt zu, dass die USA den damit begonnenen Prozess einer eigenständigen Identitätsbildung nicht wirklich stoppen können. Allenfalls können sie ihn abschwächen. Etwa dadurch, dass der Westen keine weiteren Angriffsflächen mehr biete und zum Beispiel bewusst darauf verzichte, weitere Kriege im Nahen Osten zu führen. Auch ein Krieg gegen den Iran müsse unbedingt verhindert werden. Zugleich solle der Westen versuchen, Russland in seine eigenen Reihen mit aufzunehmen und zu integrieren. Denn nur so könne die westliche Staatengemeinschaft wieder die verlorene Glaubwürdigkeit zurückerlangen. 

Dahinter steht Brzezinskis Wissen, dass Russland, sollte es außerhalb des Westens bleiben, sehr wahrscheinlich Teil eines größeren Bündnisses innerhalb der südlichen und östlichen Hemisphäre werden würde. Besonders die ersten bereits erfolgten Schritte hin zu einer russisch-chinesischen Allianz bereiten Brzezinski Sorgen. Ein solches Bündnis möchte er durch die Einbeziehung Russlands in den Westen unbedingt verhindern. Damit verfolgt er eine ähnliche Strategie wie einst Richard Nixon. Dieser hatte bereits vor über 40 Jahren versucht, durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit China das russisch-chinesische Bündnis aus der Anfangszeit des Kalten Krieges endgültig aufzubrechen. Damals war China gegenüber der UdSSR der schwächere Partner und somit der Ansatzpunkt für eine amerikanische Bündnispolitik. Heute kommt diese Rolle Russland zu, da China inzwischen erheblich an Macht gewonnen hat.

Die politische Erstarrung des Westens 

Doch das politische Erwachen in weiten Teilen der Welt ist nicht der einzige Grund für Brzezinskis weitreichende Kehrtwende. Denn in seinem Buch „Strategic Vision“ diagnostiziert er neben dem politischen Aufbruch ehemals schwacher Staaten eine sich parallel dazu vollziehende politische Erstarrung im Westen selbst. So sei beispielsweise die Auslandsberichterstattung in westlichen Medien mit den Jahren immer einseitiger geworden. Dadurch seien sowohl das Allgemeinwissen als auch der öffentliche Diskurs über Außenpolitik so verflacht, dass dies insgesamt die Attraktivität und internationale Ausstrahlungskraft der westlichen Demokratien zunehmend beschädigt habe. Die westliche Öffentlichkeit sei heute kaum noch in der Lage, eine falsche außenpolitische Entscheidung kritisch zu diskutieren. Auf diese Weise sei im Westen ein politisches Klima entstanden, in dem sich immer wieder die Kriegstreiber durchsetzen können. 

Gegenüber dem ‚Center of Strategic and International Studies‘ bekennt Brzezinski seine zentrale Befürchtung: „Amerika könnte die gleiche Art von systematischer Lähmung erleben, mit der die Sowjetunion in den 80er Jahren konfrontiert war.“ Doch auch bereits im Vorwort seines Buches „Strategic Vision“ findet sich der Gedanke. Hier führt er sogar sechs Parallelen zwischen der UdSSR der 80er Jahre und den heutigen USA auf: 1. ein festgefahrenes und reformunfähiges politisches System, 2. Bankrott durch militärische Abenteuer und übermäßige Rüstung, 3. sinkender Lebensstandard der Bevölkerung, 4. eine politische Klasse, die – zunehmend unsensibel für die steigende soziale Ungleichheit – nur darauf bedacht ist, ihre Privilegien zu verteidigen, 5. Versuche, den innenpolitischen Legitimitätsverlust durch außenpolitische Feindseligkeit zu kompensieren und 6. eine Außenpolitik, die in die Selbstisolation führt. 

Damit ergibt sich in der Tat ein düsteres Bild. Während sich die südliche und östliche Hemisphäre im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Aufbruch befindet, kommt es zugleich zu einer kulturellen und intellektuellen Erstarrung im Westen. Auf der einen Seite wird ein wirtschaftlicher Aufstieg der Schwellenländer noch durch ein neues kulturelles und historisches Bewusstsein unterstützt, während auf der anderen Seite der wirtschaftliche Niedergang der meisten westlichen Staaten noch durch ein Klima der politischen Erstarrung und Angst verstärkt wird. Die beiden von Brzezinski diagnostizierten Trends verstärken sich somit wechselseitig. Brzezinski weiß um die Dramatik des historischen Augenblicks. Er weiß, dass bald eine Situation entstanden sein könnte, in der die Realität liebgewonnene Lebenslügen der westlichen Kultur gnadenlos richtet. 

Geopolitik – eine wissenschaftliche Disziplin auf dem Prüfstand 

Ich nähre mich dem Ende meines Vortrags. Natürlich ist es begrüßenswert, dass Brzezinski sich dies zumindest eingestehen kann und dass er noch im hohen Alter in der Lage ist, seine Ansichten neu zu bewerten. Dennoch sollte es uns zu denken geben, dass sogar einer der intelligentesten Geostrategen unserer Zeit sich so irren kann und zu solch einer dramatischen Revision seiner Gedanken gezwungen ist. Denn Brzezinskis Kehrtwende zeigt, wie unzuverlässig die Geopolitik als Wissenschaft insgesamt ist. Betrachtet man die noch junge Geschichte dieser Disziplin, so scheint es fast die Regel zu sein, dass ihre Prognosen sich nicht bewahrheiten. Das bekannteste Beispiel ist das Werk des Geographen Karl Ernst Haushofer, der den Begriff des „Lebensraums“ geprägt hat und damit die Politik des Dritten Reiches maßgeblich beeinflusste. Nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde angesichts des Wirtschaftswunders des räumlich massiv geschrumpften westdeutschen Staates allerdings deutlich, dass im Industriezeitalter Siedlungsgebiete an sich gar nicht mehr diese herausragende Rolle spielen, die Haushofer ihnen zuschrieb und somit auch der Lebensraum als geopolitisches Konzept eine folgenreiche Fehleinschätzung gewesen ist. 

Es scheint daher tatsächlich so zu sein, dass die politische Deutung von Landkarten in den allermeisten Fällen ein Einfallstor für Ideologien darstellt. Beiläufig, ohne dass dies den Geographen bewusst ist, bestimmen ideologische Zielsetzungen die politische Interpretation der Geographie. So kann das Bedürfnis nach nationaler Überlegenheit oder das Verlangen, eine einmal vorgenommene rassistische Unterscheidung quasi geographisch zu rechtfertigen, die geopolitische Analyse beeinflussen. Doch auch weit harmlosere Anliegen können geopolitische Abstraktionen verfälschen. Etwa das Bedürfnis, dass alles so bleiben möge, wie es ist, womit oft der Wunsch einhergeht, dass sich nur die fremden Kulturen der neuen Zeit anpassen müssen, das eigene Land jedoch nicht. Schließlich werden geopolitische Analysen auch oft benutzt, um hohe Militärausgaben zu rechtfertigen. Damit dienen sie zugleich dazu, eine Gesellschaftsstruktur aufrechtzuerhalten, die wesentlich vom militärisch-industriellen Komplex beeinflusst wird. Es ist fast schon tragisch, dass viele der Sicherheitsexperten, die die westliche Außenpolitik maßgeblich bestimmen, an die Gültigkeit geopolitischer Analysen glauben und intellektuell nur selten in der Lage sind, von dieser Denkweise zu abstrahieren. Schnell kann im kleinen Kreis eines Think-Tanks auf diese Weise ein Klima entstehen, in dem jeder Zweifel an der Gültigkeit geopolitischer Prämissen als mangelnder Mut oder Dummheit wahrgenommen wird. Die Geopolitik ist eine Disziplin, von der eine enorme Verführungskraft ausgeht und die deshalb wie ein Magnet menschliche Eigenschaften wie Hybris und Allmachtphantasien anzieht und nähert. Daher scheint die einzige Möglichkeit, die westliche Außenpolitik nachhaltig zu korrigieren, darin zu bestehen, die geopolitischen Analysen öffentlich zu machen. Ihre Prämissen müssen dringend öffentlich diskutiert und kritisiert werden. Nur auf diese Weise können die Verführungskraft dieser Denkweise gebrochen und ihre Irrtümer ins Licht gerückt werden. Indem ich Ihnen hier einen kleinen Einblick in die tragischen Fehleinschätzungen dieser Disziplin am Beispiel eines ihrer berühmtesten Vertreter gegeben habe, wollte ich auf dieses Problem hinweisen.

Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de