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Bericht über die Beiträge im IV. PLENUM

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Bericht über die Beiträge im IV. PLENUM (Podiumsdiskussion) am 27.4.2013:

„9/11 und der NATO-Bündnisfall – Rechtliche Nachfragen zum Beschluss des NATO-Rates vom 4. 10. 2001 und seine Folgen“

Bernd Hahnfeld

Der Co-Moderator Dr. Peter Becker führte mit den Hinweis in das Thema ein, dass die „Operation Enduring Freedom“ der USA seiner Ansicht nach damals wie heute völkerrechtswidrig sei. Zwar habe die Bundesregierung 2008 die Beteiligung daran eingestellt. Jedoch werde die US-Basis Ramstein weiterhin als Steuerungszentrale für Drohnenangriffe im Rahmen von OEF genutzt. Peter Becker forderte von der Bundesregierung Rechenschaft über die völkerrechtlichen Grundlagen der Militäreinsätze OEF und ISAF.

Die Chronologie des Beschlusses des NATO-Rates über den Bündnisfall stellte Co-Moderator Dr. Dieter Deiseroth dar: 

11.9.2001 – den Entwurf eines Statements durch den Stab

13.9.2001 – die Zustimmung von US-Präsident Bush und US-Außenminister Powell

13.9.2001 – grundsätzliche Zustimmung des NATO-Rates, jedoch Klärungsbedarf (Tatsachenbeweis? Entscheidungsrechte der NATO-Mitgliedsstaaten? Deren Konsultationen vor Militär-Einsatz?)

2.10.2001 – US-Politiker informieren den NATO-Rat über Hintergründe von 9/11

2.10.2001 – Beschluss des NATO-Rates über den Bündnisfall – Text nicht publiziert, aber Bekanntgabe der Entscheidung durch NATO-Generalsekretär Robertson

4.10.2001 – NATO-Rat bestätigt NATO-Bündnisfall ohne Festlegung der Konsequenzen für die Mitgliedsländer, ohne Festlegung des Verhältnisses der NATO zu USA und ohne Festlegung der Dauer/zeitlichen Begrenzung des Bündnisfalles

7.10.2001 – Beginn der US-Militäroperationen – zusammen mit der afgh. Nordallianz

16.10.2001 – US-Regierung gibt im NATO-Rat die „Post-9/11-Doktrin“ bekannt.

Dieter Deiseroth konzentrierte die Diskussion der drei Podiumsteilnehmer Bundesminister a.D. Andreas von Bülow, Prof. Dr. Martina Haedrich (Uni Jena) und Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan (Bundeswehr-Uni München) auf folgende Fragen:

– Verstieß der US-Angriff auf Afghanistan im Oktober 2001 gegen Art. 2 Nr. 3 UN-Charta, wonach  alle Staaten ihre internationalen Streitigkeiten ausschließlich durch friedliche Mittel beilzulegen haben?

– Hat (als Ausnahme davon) der UN-Sicherheitsrat die USA gemäß Art. 39 und 42 UN-Charta zu militärischen Maßnahmen ermächtigt?

– Lag der Ausnahmefall der Selbstverteidigung der USA nach Art. 51 UN-Charta vor? (Bewaffneter Angriff? Dem Staat Afghanistan zuzurechnen?  Gegenwärtiger (fortdauernder) Angriff? Begrenzung der Selbstverteidigung auf die Zeit, bis der UN-Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen getroffen hat?)

– Sind Berichte zutreffend, dass der US-Angriff auf das Taliban-Regime bereits vor 9/11 beschlossen worden war?

– Welche rechtliche Bedeutung hat der Bündnisfall für die Entsendung der Bundeswehr nach Afghanistan i.R. von OEF und ISAF?

Martina Haedrich:  Rechtsquellen sind Art. 39 und 51 UN-Charta und Art. 5 NATO-Vertrag. Die NATO hat den Verteidigungsfall/Bündnisfall erklärt und die Resolution 1368 (2001) des UN-Sicherheitsrats hat Bezug auf Art. 51 genommen. Also seien die rechtlichen Kriterien für den Bündnisfall gegeben.

Andreas von Bülow: Der Bündnisfall sei zwar beschlossen, jedoch fehlte die Grundlage. Viele Fragen blieben ungeklärt. So habe die US-Regierung zunächst keine Kommission zur Klärung von 9/11 eingesetzt und die verspätet auf Druck der Opfer installierte Untersuchungskommission dann nur einseitig besetzt. Die staatlichen Schutzeinrichtungen der USA hätten nach den Anschlägen zwei Stunden lang total versagt. Die US-Geheimdienste seien sich in der Bewertung von 9/11 völlig uneinig. Die USA stehe heute vor allem für eine imperialistische Politik, so dass zu fragen sei: „Quo vadis USA?“

Daniel-Erasmus Khan: Er könne nicht beantworten, ob ausreichend Beweise für die Voraussetzungen der Notwehr nach Art. 51 UN-Charta vorgelegen haben. Streitig sei, ob der UN-Sicherheitsrat eine Ausnahme von dem Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 UN-Charta beschlossen habe. Zutreffend sei, dass die Verpflichtungen aus der UN-Charta Vorrang vor dem NATO-Vertrag hätten. Art. 51 UN-Charta sage aber nichts darüber, wer angegriffen haben müsse, damit der Notwehrfall ausgelöst werde. An historischen Vorgängen müsse man sich nicht sklavisch orientieren. Man müsse sich auf neuartige Bedrohungen einstellen.

Obwohl er die Beweise der USA und der NATO nicht kenne, sei er überzeugt, dass die Notwehr-Voraussetzungen des Art. 51 UN-Charta vorgelegen hätten.

Martina Haedrich: Die Frage, ob 9/11 dem Staat Afghanistan zuzurechnen sei, könne sie nicht klar beantworten. Die Resolution 1368 (2001) des UN-Sicherheitsrats sei insoweit nicht klärend, stelle andererseits aber ausdrücklich fest, dass die durch  9/11 eingetretene Störung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit mit allen Mitteln zu bekämpfen sei. Wegen der Ausbildungslager im Lande sei der 9/11-Angriff dem Staat Afghanistan ausreichend sicher zuzurechnen. Denn die Taliban hätten seinerzeit große Teile Afghanistans beherrscht. Sie halte den US-Angriff auf Afghanistan für völkerrechtsgemäß.

Daniel-Erasmus Khan: Die Taliban seien nicht selbst Täter der 9/11-Anschläge gewesen, hätten diese jedoch unterstützt. Ob die Anschläge dem Staat Afghanistan zuzurechnen seien, sei eine Frage der Beweislage. Auch die International Law Commission habe festgestellt, wenn die Taliban den terroristischen Gruppen Land als Basis für ihre Anschläge zur Verfügung gestellt hätten, also einen „save harbour“ („sicheren Hafen“) geboten hätten, dann wären sie mit Recht ein Ziel der Selbstverteidigung gewesen. Ob die Voraussetzungen von Art. 51 UN-Charta vorgelegen hätten, hänge von „den Fakten ab, die wir nicht kennen“.

Martina Haedrich: Der terroristische 9/11-Angriff sei dem Staat Afghanistan zuzurechnen, wenn die Taliban den Terroristen Ausbildungslager zur Verfügung gestellt hätten. In diesem Fall sei auch nach 9/11 die Fortdauer des Angriffs anzunehmen (gewesen). Es wäre zu begrüßen, wenn die Vereinten Nationen klären und fortentwickeln würden, was im Einzelnen als Bedrohung des Friedens und der internationalen Sicherheit angesehen werde. Wenn ein Staat von nichtstaatlichen Gruppen angegriffen werde, so könne aber auch das als völkerrechtswidriger Angriff mit militärischen Mitteln abgewehrt werden. Sie habe jedoch im Falle von 9/11 keine Belege, um dies sicher beurteilen zu können.

Daniel-Erasmus Khan: Im Wortlaut des Art. 51 UN-Charta stehe nichts von einem „gegenwärtigen Angriff“; ein solcher werde für die Zulässigkeit einer individuellen oder kollektiven Verteidigung aber allgemein vorausgesetzt. Anfang Oktober 2001 habe es eine Bedrohungslage gegeben, die einen gegenwärtigen Angriff dargestellt habe. Der Bündnisfall könne so lange aufrechterhalten werden, wie die NATO das wolle. Heute gelte das aber wohl nicht mehr.

Co-Moderator Dieter Deiseroth fasste zusammen, dass alle Referenten als zwingende völkerrechtliche Voraussetzung für den Bündnisfall (Art. 5 NATO-Vertrag) eine Faktenlage im Sinne des Art. 51 UN-Charta ansähen, deren Existenz sie jedoch als letztlich unsicher bezeichnet hätten. Trotz der fortdauernden Faktenunsicherheit hätten sich die Referenten Prof. Khan und Prof. Haedrich – im Gegensatz zu Bundesminister a.D. Dr. von Bülow – aber für ihre Annahme ausgesprochen, dass im Oktober 2001 und auch danach die Voraussetzungen des Art. 51 UN-Charta und des NATO-Bündnisfalles vorgelegen hätten.

Seiner Ansicht nach reiche es aber nicht aus, an Fakten zu glauben oder diese zu unterstellen. Man müsse ihr Vorliegen verlässlich feststellen. Genau das sei aber in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nach wie vor nicht in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise geschehen. Eine solche sorgfältige Prüfung sei unverzichtbar und überfällig.

Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de