Bericht über die Beiträge im FORUM I
Bericht über die Beiträge im FORUM I
„Der neue Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa – Sicherheitspolitische Kalküle und das Recht“
Bernd Hahnfeld
Der Moderator Götz Neuneck wies in seiner Einführung in das Thema darauf hin, dass es den US-Regierungen seit Ronald Reagans „Star-Wars“-Rede 1983 darum geht, einen Abwehrschutzschild zu entwickeln und aufzustellen, der Nuklearwaffen unwirksam („impotent“) machen kann, mit denen das Gebiet der USA angegriffen werden könnte. Die USA geben seitdem für diverse Programme ca. 10 Milliarden $ pro Jahr aus. Allerdings seien den Programmen sowohl technologisch als auch finanziell Grenzen gesetzt. Eine signifikante Verringerung der Nuklearsprengköpfe sei durch Abrüstung und Rüstungskontrolle erreicht worden. Raketenabwehr löse die tiefliegenden Probleme der nuklearen Weiterverbreitung nicht und drohe den globalen Abrüstungsprozess zu stoppen.
Bernd Hahnfeld begründete, dass das NATO-System zur Abwehr ballistischer Raketen völkerrechtswidrig ist und die Einbeziehung der Bundeswehr und des deutschen Territoriums sowie die Errichtung der Kommandozentrale in Ramstein ohne Zustimmungsgesetz des Deutschen Bundestags gegen das Grundgesetz verstoßen.
Die unabdingbare völkerrechtliche Verpflichtung aller Staaten aus Art. 6 NPT zur Aufnahme von Verhandlungen und zum Erreichen des Zieles der vollständigen nuklearen Abrüstung, deren Wirksamkeit der Internationale Gerichtshof in Den Haag 1996 ausdrücklich bekräftigt hat, werden durch den Aufbau eines Raketenabwehrschildes verletzt. Denn dieses löst bei potentiellen Gegnern die Entwicklung und Aufstellung neuer – unverwundbarer strategischer Atomwaffen aus. Insbesondere die Regierung Russlands sieht die Effektivität der russischen nuklearen Interkontinental-Raketen (ICBM) als gefährdet an und befürchtet zu Recht, dass die USA und die NATO beabsichtigen, sich militärisch unangreifbar zu machen. Damit könnte längerfristig die Grundlage des sog. „Gleichgewichts des Schreckens“, die Zweitschlagfähigkeit entfallen. Russland hat die Weiterentwicklung seiner strategischen Atomwaffen durch die Entwicklung neuer ICBM bereits angekündigt. China hat Gegenmaßnahmen angedroht, wenn seine Zweitschlagfähigkeit in Frage gestellt werden sollte.
Diese nukleare Aufrüstung potentieller Gegner verstößt gleichfalls gegen die Abrüstungsverpflichtung aus Art. 6 NPT. Sie wird aber faktisch durch den NATO-Raketenabwehrschild ausgelöst. Dieses Verhalten der NATO-Staaten verletzt fundamental den in Art. 6 NPT formulierten Grundsatz redlichen Verhaltens. Denn dazu gehört, alles zu unterlassen, was der Verpflichtung zur unverzüglichen Aufnahme von redlichen Verhandlungen über die vollständige nukleare Abrüstung und deren Durchführung entgegensteht.
Bernd Hahnfeld hob hervor, dass die Bundesregierung nach Art. 20 Abs. 3, Art. 25 Grundgesetz verpflichtet ist, alle Handlungen zu unterlassen, die völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands verletzen. Die Zustimmungen der Bundesregierung zur Beteiligung Deutschlands an dem NATO-Raketenabwehrschild und zur Errichtung der Kommandozentrale in Ramstein sind rechtsfehlerhaft und deshalb zurückzunehmen.
Die Bundesregierung hat auch die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestags verletzt. Dessen aus dem Jahre 1955 stammenden Zustimmungsgesetze zum NATO-Vertrag und zum Aufenthaltsvertrag erstrecken sich nicht mehr auf das technologisch völlig neuartige Raketenabwehrsystem, das politisch, militärstrategisch und sicherheitspolitisch existentielle Gefahren für Deutschland herbeiführen kann. Wegen der engen Verflechtung der NATO- und der US-Befehlsstränge und wegen der aus Zeitgründen im Einsatzfall fehlenden Mitwirkungsmöglichkeiten deutscher Dienststellen entscheiden letztlich immer US-Militärs über den Einsatz, wobei eine parlamentarische Kontrolle weder auf der NATO-Ebene noch nach dem deutschen Recht vorgesehen ist. Zudem kann auf die Rechtstreue des NATO-Partners USA nicht vertraut werden. Der Irak-Krieg hat belegt, dass die USA ihre Militärbasen und Militäreinrichtungen in Deutschland eigenmächtig auch für ihre völkerrechtswidrige Kriegsführung nutzen.
Abschließend betonte Bernd Hahnfeld, dass die Völkerrechtswidrigkeit des NATO-Raketenabwehrschildes allenfalls dann entfallen könnte, wenn alle Staaten den in Art. 6 NPT vorgesehenen Vertrag über die vollständige und kontrollierte nukleare Abrüstung (z.B. die der UN vorliegende Nuklearwaffenkonvention) abgeschlossen haben und mit der Durchsetzung beginnen.
Diese Ausführungen führten zu weitgehend ablehnenden Reaktionen von Referenten und einiger Teilnehmer. Dabei wurde mehrmals betont, dass die Verpflichtung aus Art. 6 NPT politisch wirkungslos sei und deshalb besser an den Realitäten angeknüpft werden sollte. Bernd Hahnfeld entgegnete dem mit dem Hinweis, dass ebenso wie innerstaatliches Recht das Völkerrecht auch dann fort gilt, wenn dagegen wiederholt verstoßen wird. Die Voraussetzungen für ein abweichendes Völkergewohnheitsrecht (ständige einheitliche Staatenpraxis und die allgemeine Rechtsüberzeugung der Staaten) liegen nicht vor. Das Problem liegt auf der Vollzugsebene, weil keine supernationale Instanz die Erfüllung von Völkerrecht (auch gegen die Veto-Mächte des UN-Sicherheitsrats) erzwingen kann.
MdB Paul Schäfer bestätigte, dass der Deutsche Bundestag kein Zustimmungsgesetz verabschiedet hat. Er hob hervor, dass die Bundesregierung der NATO-Gipfelerklärung 2010 zugestimmt hat, durch die über den Raketenabwehrschild entschieden worden ist. Die Bundesregierung habe sich das Bedrohungsszenarium der NATO zu Eigen gemacht. Auch habe sich die Bundesregierung bereits 2005 der auf das Gefechtsfeld beschränkten Raketenabwehr der NATO angeschlossen und Patriot-Raketen aufgestellt.
Paul Schäfer stellte fest, dass der NATO-Raketenabwehrschild nur in den Fachgremien des Bundestags, aber nicht im gesamten Bundestag erörtert werde. Die Debatte sei zudem auf das Verhältnis der NATO zu Russland verengt, wobei es darum gehe Russland einzubeziehen. Er persönlich und seine Fraktion verträten zwar die Auffassung, dass die Raketenabwehr auch nicht besser sei, wenn Russland beteiligt werde. Jedoch müsse die politische Handlungsfähigkeit bewahrt werden. Bei den Entscheidungen des Bundestags über die Rüstungsbeschaffung müssen die politischen Vorteile gegen die Kosten abgewogen werden.
Chancen für eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht wegen der fehlenden Beteiligung des Bundestags bei der Zustimmung der Bundesregierung zu der Errichtung des NATO-Raketenabwehrschildes sieht Paul Schäfer derzeit nicht. Er sagt jedoch die Prüfung dieser Frage zu. Er vertritt die Auffassung, dass der Bundestag zustimmen müsse, wenn die Abwehrraketen in Deutschland stationiert werden sollten.
Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose spannte den Bogen von den ersten Überlegungen einer Raketenabwehr, die im Weltkrieg II im UK zur Abwehr der V1 und V2 angestellt wurden, über die Debatten in den USA in den 60-er Jahren bis hin zu den aktuellen Plänen. Die zeitweilige Gefahr elektromagnetischer Pulse durch die Abwehr mit nuklearen Raketensprengköpfen sei durch die Konventionalisierung auch der russischen Abwehrraketen gebannt worden.
Jürgen Rose wies darauf hin, dass das System der nuklearen Abschreckung, das auf der gesicherten Gegenschlagfähigkeit beruhe, durch eine wirksame Raketenabwehr destabilisiert werde. Auch er hält es für erforderlich, die Abrüstungsverpflichtungen aus Art. 6 NPT endlich umzusetzen. Er bedauert, dass die Nuklearmächte sich stattdessen „Schwert und Schild“ zulegen und vor allem ihre Offensivfähigkeit bewahren wollten.
Russland protestiere zwar gegen die NATO-Raketenabwehr, arbeite aber dennoch mit der NATO zusammen. Innerhalb der NATO wolle die USA den „Finger am Drücker“ behalten und lasse die NATO-Partner zu dem System lediglich beisteuern.
Den in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ im April 2013 veröffentlichten Ansatz von Dieter Deiseroth und Bernd Hahnfeld sieht Jürgen Rose als kreativ und originell an. Eine Mitwirkungspflicht des Bundestags sieht er nicht, weil das Bundesverfassungsgerichtbereits entschieden habe, dass die neue NATO-Strategie nicht zustimmungspflichtig sei. Über die NATO-Raketenabwehr würde das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich nicht anders urteilen.
Jürgen Rose spricht sich für eine Initiative aus, die den „Kalten Krieg“ endlich beendet und die künftigen Beziehungen auf Transparenz und Informationsaustausch aufbaut.
Der aus Brüssel angereiste stellvertretende Ständige Vertreter der Russischen Föderation bei der NATO Nikolay Korchunov betonte, dass Sicherheit in Europa nicht auf Kosten der Nachbarländer erreicht werden könne. Eine Bedrohung für Europa und um so mehr für die USA durch den Iran sei unwahrscheinlich. Daraus stammen Zweifel über die echten Ziele der amerikanischen/NATO Raketenabwehr in Europa. Da ein unauflösbarer gegenseitiger Zusammenhang zwischen strategischen offensiven und strategischen defensiven Waffen existiert, sehen sich einige Staaten, darunter auch Russland, gezwungen, ihre nuklearen Arsenale zu stärken. Offensichtlich schadet das der Stabilität sowohl in Europa, als auch auf der globalen Ebene. Auf dieser Basis beruhen russische Forderungen nach rechtlichen Garantien, dass das NATO-System nicht gegen Russland gerichtet ist, und der Vorschlag, ein gemeinsames Raketenabwehr-System in Europa zu schaffen. Zum Schluss betonte Nikolay Korchunov, dass Russland der Suche nach einem Kompromiss ergeben ist, aber je mehr die NATO-Pläne realisiert werden, desto weniger Zeit bleibt, um eine Lösung zu finden
In der folgenden Diskussion wurde die Strategie der USA kritisiert, ihre Überlegenheit mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten und das zudem durch die Erhöhung der US-Schulden zu finanzieren. Mehrfach geäußert wurde der Wunsch nach Dialog zwischen den Großmächten. Zustimmung erhielt auch die Idee, die NATO aufzulösen, weil ihre ursprünglichen Aufgaben mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation des „Kalten Krieges“ gegenstandslos geworden seien.
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de