Aufklärungsmangel und Demokratiemüdigkeit
INTERVIEW/177: Quo vadis NATO? – Aufklärungsmangel und Demokratiemüdigkeit – Jörg Becker im Gespräch (SB)
Interview am 27. April 2013 in Bremen
Der Gesellschaftstheoretiker, Politik- und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Jörg Becker untersucht in seinen zahlreichen Schriften unter anderem die politische Bedeutung von Kommunikation und Medien für die Gesellschaft. Dabei geht er ebenso Fragen zur demokratietheoretischen Relevanz, der politischen Ökonomie und ideologischen Funktion von Medien nach, wie er ihr Verhältnis zu Krieg und Frieden kritisch beleuchtet. So bemühte er sich in der zusammen mit Mira Beham verfaßten Untersuchung „Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod“ (2006, 2008), die Lücke der völlig unzureichenden Aufarbeitung des medialen Propagandafeldzuges während der Jugoslawienkriege zumindest ein wenig zu schließen. Seine jüngste, im Mai veröffentlichte Publikation „Elisabeth Noelle-Neumann. Zwischen NS-Ideologie und Konservatismus“ stieß unter Parteigängern der 2010 verstorbenen Demoskopin auf wenig Gegenliebe, wie eine Rezension Michael Wolffsohns [1] in der FAZ dokumentiert und wie Otto Köhler in einer Rezension in der jungen Welt [2] erläutert.
Nach seinem Vortrag zum Thema „Der Umgang der Massenmedien mit dem Krieg – strukturelle Produktionsbedingungen“ auf dem Kongreß „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ [3] beantwortete Jörg Becker dem Schattenblick einige Fragen.
Schattenblick: „Content is king“ – auf diese Erfolgsrezeptur setzen viele Zeitungsmacher. Könnten Sie Ihre unter dem Begriff „Contentismus“ geübte Kritik an dieser Art von Inhaltlichkeit erläutern?
Prof. Dr. Jörg Becker: Ich will das einmal mit dem alten Adorno erklären. Wer in einer Tageszeitung oder in der Tagesschau den dort angebotenen Content für bare Münze nimmt und entweder anfängt, diesen so weiterzugeben, wie man ihn gelesen hat, oder sich auch gerne kritisch im Rahmen dessen, wie man es gerade verstanden hat, auseinandersetzt – dann heißt das nach Adorno nichts anderes als Verdopplung von Ideologie. Das leuchtet in Kenntnis all der aberwitzigen organisatorischen, kommerzialisierten Rahmenbedingungen unserer Medienproduktion ungeheuer ein. Das heißt, wer nicht anfängt, hinter den Content zu schauen, geht dem Content auf den Leim. Das ist mein Plädoyer.
Ich erinnere mich noch gut daran, als wir in der Germanistik 1968 in Marburg den Professor Kunze aus seiner eigenen Vorlesung rausgeekelt haben, weil er nichts anderes vortrug als eine literaturimmanente Auseinandersetzung mit dem „West-östlichen Divan“. Das reicht nicht. Man muß an Texte anders herangehen als sie nur Zeile für Zeile zu lesen und zu interpretieren. Um es simpel zu sagen, man sollte sie in ihren gesellschaftlichen Kontext stellen – und nichts anderes habe ich heute gefordert.
SB: Sie verweisen in ihrem Vortragsskript auf den Wandel von kritischer Theorie zur Postmoderne. In deren Theoriebildung ist unter anderem von subjektfreier, sich selbst prozessierender Textualität die Rede. Welchen Einfluß hat diese Entwicklung Ihrer Ansicht nach auf den Journalismus und die Medien im allgemeinen?
JB: Ich denke, das ist eine ziemlich komplizierte wissenschaftstheoretische Geschichte, über die man dort reden muß. Mir kommen als erstes Debatten über die Selbstreferenzialität von Medien in den Kopf. Ich denke da an den Soziologen Niklas Luhmann oder den radikalen Konstruktivismus, doch wenn ich diese Theorien so übernehme, wie sie mir angeboten werden, dann lande ich in ziemlich unverbindlichen Positionen. Da gibt es keine Moral und eigentlich auch keine Ästhetik mehr, ganz zu schweigen von irgendwelchen normativen Debatten. Es gibt sozusagen sich selbst kreierende Bilder, die Bilder sind, die Bilder sind, die Bilder sind.
Aus der Sicht des allgemeinen Menschenverstandes halte ich das für eine Frechheit. Wenn ich Bildzeitungsleser bin, dann möchte ich gerne wissen, ob der Hund echt zugebissen hat oder nicht. Dabei interessiert mich nicht, ob der Hund selbstreferenziell ist, sondern ich möchte wissen, ob die Zähne wirklich scharf waren. Ich finde eine derartige Erwartungshaltung von einem ganz normalen Menschen völlig in Ordnung. Ein anderes Denkmodell: Im Irakkrieg haben postmoderne Philosophen in Frankreich Sätze losgelassen wie „Kino ist Krieg und Krieg ist Kino“. Das kann man machen, aber es ist sehr zynisch angesichts desjenigen Menschen, der einen Schuß in den Oberschenkel bekommen hat und in der Wüste verdurstet, weil ihm niemand hilft. Ich mag eine Philosophie nicht, die über das subjektive Leiden eines Angeschossenen im Krieg mit solchen Sätzen hinwegfegt. Das will ich nicht. Das heißt, diese Art von Philosophie kennt eigentlich keine Realitätsbezüge mehr, und dagegen versuche ich anzukämpfen.
SB: Kategorien wie Macht, Herrschaft, System und Struktur, gesellschaftliche Widersprüche und materialistische Analysen werden im heutigen Mediengeschäft bestenfalls randläufig reflektiert. Meinen Sie, daß dieser Mangel einen Einfluß auf die Arbeit von Journalisten hat?
JB: Natürlich. In diesem Zusammenhang erwähne ich die Tageszeitung bei mir zu Hause in Solingen: das Solinger Tageblatt. Wir haben dort in der Hierarchie dieser Zeitung jemand, der zwei Jobs gleichzeitig ausübt: als Chefredakteur und als Verlagsleiter. In einer solchen Konstruktion, in der Unternehmensrechte und journalistische Freiheitsrechte in der Rollenzuweisung ein und derselben Person aufgehoben sind, kann das Resultat nur eine Beschneidung journalistischer Freiheit sein. Dies läuft auf hierarchischen Rollenzwang hinaus und auf eine Behinderung dessen, was unsere Medien laut Artikel fünf des Grundgesetzes zu leisten haben. Doch kann es so nicht mehr funktionieren, wenn man nur noch danach, was im Hierarchiemodell vorgegeben ist, handelt.
SB: Haben Sie speziell die Verquickung von ökonomischen und publizistischen Sphären im Sinn?
JB: Ja, die habe ich sehr wohl im Sinn, weil es sowieso eine alte Strategie des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) ist, zwei Dinge miteinander zu verwechseln. Die Meinungsfreiheit ist etwas ganz anderes als die Pressefreiheit. Und beides ergibt sich auch nicht gleichrangig aus dem Grundgesetz. Laut Artikel fünf steht prioritär die Meinungsfreiheit vor der Pressefreiheit, so daß völlig klar ist: Die Meinungsfreiheit ist etwas anderes als die Gewerbefreiheit.
SB: Im heutigen Seminar wurde der Friedensjournalismus nach Johan Galtung dem gemeinmachenden Journalismus gegenübergestellt. Der Vorwurf, daß sich Journalisten mit den Dingen, über die sie berichten, gemein machen, könnte natürlich auch dem Friedensjournalismus gegenüber erhoben werden, indem man behauptet, damit würde ein bestimmtes Interesse verfolgt, das die Objektivität und Neutralität der Berichterstattung beeinträchtigt. Wie beurteilen Sie die Frage der Positionierung im Journalismus?
JB: Man sollte mit einer normativen Grundentscheidung beginnen. Wenn man sie getroffen hat, stößt man auf andere Probleme. Die erste normative Grundentscheidung heißt in der Tat, wie wir es heute von vielen Völkerrechtlern gehört haben, daß das Grundprinzip von Außenpolitik, von UNO, von internationaler Politik das Gewaltverbot ist. Dies ist ein normativer Grundsatz. Erst wenn man diesem folgt, sollten Prinzipien des Journalismus zur Geltung gelangen. Ich würde sehr simple Dinge fordern, und da wären wir schon beim Friedensjournalismus von Johan Galtung. Es geht um die einfache Forderung, über die Argumente beider Kriegsparteien zu berichten – wobei es in einem Krieg wenigstens sechs oder acht Seiten gibt. Ich halte es für selbstverständlich, daß während des Kosovokrieges in der FAZ oder in der ZEIT auch einmal ein Orginalinterview mit einem serbischen General abgedruckt wird. Und ich setze einen autonomen Leser und Rezipienten voraus, der das alleine interpretieren kann. Ich brauche keinen redaktionellen Krückstock von irgendeinem Chefredakteur, der mir erklärt, wie ich einen serbischen General zu verstehen habe. Sicherlich muß man aufpassen, daß man die normative Grundhaltung „Gewaltverbot“ nicht zu rigiden, verklemmten, kleinsichtigen oder pazifistischen Geschichten verkümmern läßt. Das darf nicht sein, wie es Parteilichkeit überhaupt nur für den Frieden geben sollte. Frieden kann allerdings unterschiedlich verwirklicht werden. Die Opferseite muß beispielsweise ganz massiv ins Bewußtsein des Lesers gebracht werden. Das gilt auch für das öffentlich-rechtliche Fernsehen.
Wie wir aus der Friedensforschungsdebatte seit langem wissen, gibt es personale, direkte, indirekte, strukturelle und persönliche Gewalt und so weiter. Die Fixierung unserer Massenmedien auf kriegerische Gewalt ist in der Tat höchst fragwürdig. Um bei dem Friedensjournalismuskonzept von Johan Galtung zu bleiben: Warum ist strukturelle Gewalt nicht der permanente Stachel im Fleisch eines Redakteurs, darüber zu schreiben, wieviel 10.000 Kinder täglich schlicht vor Hunger sterben? Warum ist das nicht jeden Tag oder wenigstens einmal im Monat eine Schlagzeile wert? Und insofern ist die Frage berechtigt, wie ich Hungeropfern im Verhältnis etwa zu den Opfern von Anschlägen publizistischen Raum geben kann.
SB: Auf diesem Kongreß wurde sehr viel darüber debattiert, wie sich kriegerische Interventionen überhaupt begründen lassen. Niemand scheint es allerdings für notwendig zu erachten, in einer Hungerzone zu intervenieren und die notleidenden Menschen dort vollständig zu ernähren. Zudem sind immer nur bestimmte Staaten und Regierungen in der Lage, militärische Interventionen durchzuführen, während andere fast immer davon betroffen sind. Macht das die völkerrechtliche Debatte nicht unglaubwürdig?
JB: Ich will diese Argumentation mit einem anderen Argument ergänzen: Die gedanklich-theoretische Auseinandersetzung, es könne möglich sein, aus gerechten Gründen einen Krieg zu führen, ist sowohl von katholisch-kirchlicher Seite als auch in der Sozialwissenschaft bis weit in die 80er Jahre als Thema erledigt gewesen. Katholische Kirche und Sozialwissenschaft waren sich darin einig, daß es keine aus einem gerechten Grund geführten Kriege gibt. Hierzu möchte ich sehr deutlich auf die verschiedenen Stellungnahmen des Vatikans verweisen. Wir sind längst wieder von dieser Position abgewichen. Die herrschenden Politikkreise führen inzwischen ohne Probleme Kriege, die mit Menschenrechten begründet werden. Während des Kosovokriegs gab es hierzu spannende Definitionen einiger Politiker.
Damit komme ich auf einen anderen Gedanken. Ein Soziologe der Universität München hat zutreffend gesagt, daß der Kosovokrieg von einer Koalition aus NATO und amnesty international geführt wurde. Das heißt, NGOs, Grasroot-Gruppen, die berühmte Zivilgesellschaft und irgendwelche kirchlichen Kreise hatten im Prinzip die gleiche Position wegen der Menschenrechtsfrage im Kosovo wie die NATO. Ohne die Unterstützung der gesamten zivilgesellschaftlichen Kräfte wäre die NATO-Intervention im Kosovo nicht möglich gewesen. Es ist ungeheuerlich, daß auf einmal dieses Tabu „Gerechter Krieg“ nicht mehr gilt; ich wiederhole: sowohl bei der NATO wie bei amnesty international nicht mehr gilt. Im übrigen gibt es intern bei amnesty international seit dem Kosovokrieg Überlegungen über Ausnahmen vom Gewaltverbot, unter anderem aufgrund der Menschenrechtsfrage. Das heißt, auch eine so hehre Institution wie amnesty international ist längst von herrschenden Kreisen, deren Anliegen es ist, das Gewaltverbot aufzugeben, vereinnahmt worden.
Desweiteren gibt es empirisch eine Reihe von Fällen, in denen Regierungen gegen Bezahlung bei Public-Relations-Agenturen die Bildung von Protestgruppen veranlaßt haben. Bekannt sind die sogenannten „Jubelperser“, organisierte Beifallklatscher, die scheinbar eine zivilgesellschaftliche Mehrheitsmeinung von unten für das, was die Militärs und das Pentagon von oben anbieten, vehement vertreten. Wenn eine Regierung, eine PR-Agentur oder Massenmedien es schaffen, einen geschlossenen Kreislauf zwischen den Militärs oben und den Kirchengruppen unten herzustellen, dann ist „der Sieg“ gewiß.
SB: Wie erklären Sie sich, daß die mediale Wirklichkeit sich in ihrer Sprachregelung und in ihren Deutungen gegenüber einer Bevölkerung, die laut Umfragen keinen Krieg will, durchsetzt?
JB: Einfach gesagt: Weil wir alle Menschen und alle ungeheuer ambivalent sind. Wir sind nicht einförmig. Wir sagen gleichzeitig ja und nein, wir sind verheiratet und glücklich und betrügen am nächsten Tag unsere Frau, aber wir sind ein und derselbe Mensch. Und so ähnlich ist das auch bei all diesen Fragen der Medienrezeption. Wir sind nicht eindimensional, wir sagen zu irgendeiner Umfrage aus dem Allensbach-Institut ja, und bei der nächsten Kontrollfrage sagen wir nein. Das heißt, hier gibt es ungeheuer viele Ambivalenzen. Es kommt darauf an, zu welchem Zeitpunkt ich etwas gelesen habe. Seit Jahren schaue ich die Tagesschau doch nur noch, um mich über diesen Theaterkram lustig zu machen. Wer meint, Tagesschau und Rezeption von Tagesschau seien ein und dasselbe, spricht mir die Autonomie ab. Diese Autonomie gebe ich im Prinzip auch jedem Bildzeitungsleser, der sich in der morgendlichen Arbeitspause, wenn es denn überhaupt noch Malocher gibt, an irgendeiner sexistischen Darstellung hochzieht und lacht, und eine halbe Stunde später einer Arbeitskollegin ebenso hilft wie er einem männlichen Kollegen helfen würde. Ich warne davor, den Medienrezipienten als Nullnummer oder als beliebiges Manipulationsobjekt wahrzunehmen. Nein, das ist komplizierter.
SB: Herr Becker, vielen Dank für das Gespräch.
Fußnoten:
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/joerg-becker-elisabeth-noelle-neumann-infame-abrechnung-mit-elisabeth-noelle-neumann-12241325.html
[2] http://www.jungewelt.de/2013/05-31/022.php
[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0153.html
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de