Wege zum Anstandsmilitär
INTERVIEW/183: Quo vadis NATO? – Wege zum Anstandsmilitär, Dr. Thomas Henne im Gespräch (SB)
„Bei all dem Unrecht, das die NATO in der Welt verursacht hat und verursacht, scheinen die Gladio-Aktivitäten ein durchaus kleinerer Teil zu sein.“
Interview mit dem Privatdozenten Dr. Thomas Henne am 27. April 2013 in Bremen
Auf einem Kongreß zur Gegenwart und Zukunft der NATO, wie ihn die deutsche Sektion der IALANA vom 26. bis 28. April 2013 an der Universität Bremen in Zusammenarbeit mit zahlreichen weiteren Organisationen unter dem Titel „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ veranstaltet hatte, durfte das Thema der NATO-Geheimarmeen, ein wenig besser bekannt unter Stichworten wie „Gladio“ oder „Stay behind“ [1], nicht fehlen. Für das ihm gewidmete Plenum konnte mit dem Schweizer Historiker und Friedensforscher Dr. phil. Daniele Ganser, Leiter des Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER), einer der populärsten Experten zu dieser brisanten wie tabuisierten Problematik gewonnen werden. Der Autor einschlägiger Werke wie „NATO Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegführung“ hielt das Impulsreferat zum Thema „Erfahrungen mit Gladio und der ‚Strategie der Spannungen‘ in NATO-Staaten“.
An der anschließenden Plenumsdiskussion beteiligten sich weitere Publizisten mit Kurzstatements zum Thema, so die Berliner Autorin Regine Igel, die „Von heimlichen und unheimlichen Kooperationen. Über die Wurzeln des deutschen und italienischen Terrorismus im Kalten Krieg“ berichtete, sowie der Jurist und Rechtshistoriker Dr. Thomas Henne, der über die „Erfahrungen mit Gladio in der BR Deutschland und die Justiz“ referierte. Mit ihm ergab sich für den Schattenblick im Anschluß die Gelegenheit zu einem Gespräch, in dem er zu den in dieser Veranstaltung angesprochenen Thesen und präsentierten Inhalten wie auch weiteren, auf dem Kongreß diskutierten Fragen auf durchaus kontroverse und diskussionsanregende Weise Stellung nahm.
Schattenblick: In Luxemburg findet zur Zeit ein Strafverfahren statt von einiger politischer Brisanz, Stichwort „Gladio“ und „Stay behind“. Können Sie kurz erläutern, worum es dabei geht? Läßt sich das auf einen kurzen Nenner bringen?
Dr. Thomas Henne: Ich habe die Faktenlage jetzt nicht so im Kopf, aber die Bedeutung scheint mir doch zu sein, daß jenseits der konkreten Fragen, um die es strafprozeßrechtlich dort geht, klandestine Strukturen ans Licht der Gerichtsöffentlichkeit kommen, über die bisher zu wenig gesprochen und die auch nach der Öffnung der Archive nach 1989 kaum beachtet wurden. Das ist sehr wichtig, weil dort mit den Augen, den Mitteln und Methoden der Justiz in einem Gerichtsverfahren Licht auf klandestine Strukturen geworfen wird. Juristen sind keine Historiker, sie schreiben erst einmal Justizgeschichte. Die Historiker müssen ihre Hausaufgaben dann selber machen.
SB: Gibt es denn schon irgendwelche Reaktionen hier in Deutschland seitens der Politik auf den Prozeß in Luxemburg? Denn es soll ja auch der BND betroffen sein, woraus sich doch eigentlich eine prekäre Situation ergibt.
TH: Dazu fällt mir das Stichwort der Institutionenkonkurrenz ein, das ich auch in meinem Statement angesprochen habe. Wir haben auf der Ebene der Geheimdienste wie auch auf der Ebene der Armeen eine Konkurrenz verschiedener Institutionen. Der BND ist eine dieser Institutionen, die natürlich einerseits an erfolgreichen Aktionen interessiert ist, aber andererseits auch daran interessiert ist, stattgefundene oder auch nicht stattgefundene Aktionen als erfolgreich in der Öffentlichkeit zu verkaufen. Und dazu zählt natürlich in diesem Gerichtsverfahren, die eigenen Positionen darzustellen oder eben Stillschweigen zu bewahren, insbesondere dann, wenn es sich um Taten von Leuten gehandelt hat, mit denen man im nachhinein herzlich wenig zu tun haben möchte.
Das ist etwas, was mir auch im Vortrag von Herrn Ganser zu wenig vorkam, daß die Institutionen, die er dort geschildert hat, nicht hierarchisch gesteuert sind mit einem Chef, sei es Nixon oder wen auch immer von den Bösen man dort vermutet, der alles bestimmt, und dann tun die Leute vor Ort das genauso, wie es angeordnet wurde. Sondern es ist eben sehr gut möglich, daß lokale Abteilungen, wenig von der Zentrale aus gesteuert, eigene Aktivitäten entfalten, die sehr dilettantisch sein können und deren Ausführungen auch überhaupt nicht mit der Zentrale abgesprochen sind, so daß dann zum Schluß das Werk weniger Männer – es handelt sich im übrigen nahezu ausschließlich um Männer, über die wir hier sprechen – einer Organisation zugerechnet wird. Dann muß sich eine solche Organisation plötzlich dagegen wehren und wird es manchmal dadurch tun, daß sie sich von diesen Leuten distanziert oder eben schweigt.
SB: Ihr eigentlicher Arbeitsschwerpunkt liegt mehr bei den Gladio- und Stay-behind-Strukturen auf bundesdeutscher Seite. Dieses Thema wird von der Öffentlichkeit und den Medien insgesamt wenig beachtet, aber noch viel weniger weiß man eigentlich über diese Verhältnisse, insofern sie die Bundesrepublik betreffen. Könnten Sie da die wichtigsten Stichpunkte zusammenfassen?
TH: Mir scheint einerseits, wie ich das in meinem Statement vorhin auch schon kurz erläutert habe, das Anknüpfen an alte Freikorps-Strategien, an alte männerbündische, paramilitärische Strukturen der Weimarer Zeit, sehr wichtig zu sein. Damals waren diese Strukturen bei vielen politischen Morden sehr erfolgreich, ich nenne nur den Erzbergermord, den Rathenaumord [2] und die Er-mordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Das alles ist aus solchen Strukturen heraus geschehen, die immer auf eine gewisse Billigung und Akzeptanz durch die Justiz vertrauen konnten, so daß das persönliche Risiko für die beteiligten Mörder und ihre Hintermänner sehr gering war.
An diese Strukturen wollten bestimmte Kreise auch nach 1945 anknüpfen. Nun aber hatten sich natürlich einige Dinge entschieden verändert. Erstens war in der frühen Bundesrepublik sehr schnell die Gründung einer Armee in Gang gekommen, so daß paramilitärische Strukturen erst einmal weniger Platz hatten, weil es nun eine Armee mit ihren Vorfeldorganisationen gab. Zweitens hatten die Amerikaner, anders als in der Weimarer Republik, sehr früh auf eine Professionalisierung der Geheimdiensttätigkeit gedrängt, um einen schlagkräftigen Geheimdienst gegen den Osten zu haben, so daß letztlich auch dort unprofessionelle Mord- und Verfolgungstätigkeiten in paramilitärischen Strukturen auf wenig Resonanz stießen. Und drittens war es natürlich so: Dadurch, daß jetzt die drei westlichen Besatzungsmächte unterschiedliche Strategien verfolgten und ihre Institutionen jeweils eigene Aktivitäten entfalteten und auch dort die paramilitärischen, männerbündischen Strukturen auf relativ wenig Resonanz trafen, jedenfalls nicht bei den zentralen Stellen, die sich mehr mit professionellen Geheimdiensten und dem Aufbau der Armee beschäftigten, blieben diese männerbündischen Strukturen relativ isoliert und vergleichsweise schlecht ausgestattet. Von dem, was sie tatsächlich in den 1950er und 60er Jahren zur Kommunistenverfolgung beigetragen haben, ist relativ wenig zu finden.
SB: Damit geben Sie mir gleich das nächste Stichwort. Antikommunismus ist ja wie ein roter Faden, der sich durch die Geschichte auch der Geheimdienste zieht. Heute wird gern schon so getan, als wenn der Kommunismus und alles, was mit dieser Idee und Utopie einmal gemeint gewesen war, historisch längst überholt sei. Halten Sie das für zutreffend oder müßte man Ihrer Meinung nach auch daran noch weiter anknüpfen, um die politische Stoßrichtung derartiger Aktivitäten nachvollziehbar zu machen?
TH: Der Antikommunismus blieb natürlich das verbindende Band dieser Aktivitäten, aber die Institutionalisierung einer genuin antikommunistischen Organisation war der Verfassungsschutz. Darauf haben insbesondere auch die Amerikaner sehr früh gedrängt. Sie wollten eine Institution haben, die professionell vorrangig gegen den Kommunismus vorgeht. Die wurde als Verfassungsschutz tituliert, der dann tatsächlich auch viele Aktivitäten entfaltet hat. Nach 1989 entfiel natürlich in gewisser Weise die Grundlage für diese antikommunistischen Strukturen. Die Leute, die nun dort aktiv waren, brauchten ein neues Betätigungsfeld. Solche Institutionen haben natürlich immer, wenn sie erst einmal eine gewisse Zeit existieren, ein hohes Interesse, weiterzubestehen. Erst nachdem dem Verfassungsschutz sein Lieblingsfeind, die DKP, nahezu weggefallen war und die kommunistischen Gruppen in der Bedeutungslosigkeit verschwunden waren, begannen Teile des Verfassungsschutzes, sich dem islamistischen Terror und dem Rechtsextremismus zuzuwenden.
Aber der eigentliche Kern des sogenannten Verfassungsschutzes ist die Bekämpfung des Kommunismus im Rahmen einer professionalisierten Struktur. Nicht zufällig sind deshalb auch die Aktionen des sogenannten Verfassungsschutzes im Feld des Rechtsextremismus von so hohem Dilettantismus geprägt. Die Arbeitsweisen, die dort entwickelt worden waren gegen die kommunistischen Strukturen, die tatsächlich schön hierarchisch organisiert sind mit dem Zentralkomitee an der Spitze, griffen nicht. Solche Strukturen finden sich in den rechtsextremen Gruppierungen herzlich wenig. Der Verfassungsschutz reagierte darauf nahezu dilettantisch, wie wir jetzt im Umfeld der NSU-Aktivitäten gelernt haben.
SB: Eine Frage noch zum Stichwort „Verschwörungstheorie“. Vorhin wurde hier auf dem Kongreß schon angesprochen, daß, wer immer in dem Bereich Gladio in der Forschung tätig wird, sofort daran gehindert werde.
TH: Das sehe ich nicht so; auch nicht, daß Universitätsprofessoren nicht gegen den eigenen Staat forschen könnten. Da beginnt doch schon die Verschwörungstheorie. Ich weiß nicht, wo das herkommt. Ich kenne keine Kollegen, die sagen, wir dürfen keine Staatsverbrechen aufdecken, weil wir vom Staat beschäftigt sind. Das sind immer so diese Lieschen-Müller-Vorstellungen. Nur in dem Moment, in dem man für eine These keine breite Unterstützung findet, dann sind eben alle anderen nicht in der Lage zu denken, weil sie keine freie Menschen sind. Diesen Punkt sehe ich überhaupt nicht. Verschwörungstheorien haben eben die süße Kraft der Verführung. Sie erzählen eine wunderbar aufgehende Geschichte von einer bösen Instanz, die große Verbrechen begeht und dabei aber einen riesigen Fehler macht, der so groß ist und so banal, daß sogar Lieschen Müller ihn nachvollziehen kann. Das ist wunderbar, denn damit bekommen große Verbrechen plötzlich
eine sehr klare und genau aufgehende Erzählung, die Gut und Böse sehr einfach verteilt. Und das war es dann.
Solche Verschwörungstheorien lassen sich der Sache nach nie widerlegen, weil sie natürlich immer aus einem hochkomplexen Ablauf in klandestinen Strukturen einzelne Punkte herausgreifen und sagen, das kann nicht stimmen. Und dieser Punkt läßt sich nie widerlegen. Als Jurist denke ich, reagiert man möglicherweise deshalb sogar besonders ablehnend auf solche Verschwörungstheorien, weil wir natürlich in Strafverfahren tendentiell dasselbe Problem haben. Wo auch Leute einen Angeklagten, der verurteilt worden ist, für unschuldig halten, weil sie aus einer komplexen Abwägung einen Punkt herausgreifen und sagen, „das kann nicht sein, das stimmt nicht“, und deshalb ist der Angeklagte unschuldig.
SB: Wie würden Sie denn bei Gladio den Kern des Problems definieren? Wie gehen Sie als Jurist mit dieser Frage um?
TH: Ich bin sehr dafür, daß man sich mit diesen Dingen beschäftigt, doch Herr Ganser setzt ja auf eine Suggestivwirkung. Er führt uns von den 1950er Jahren bis in die 1990er Jahre durch alle möglichen europäischen Länder und beschreibt diverse Facetten des rechtsextremen Terrorismus, der in ganz unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten stattgefunden hat. Von Italien, wo sicherlich eine ganz andere Konstellation bestand und wo tatsächlich größere, im Geheimen operierende Gruppen staatlicherseits gedeckt wurden, sind wir dann plötzlich bei der Versenkung der Rainbow Warrior in Frankreich. Ganz andere Beispiele sind das Oktoberfest-Attentat und weitere Anschläge. Das Ganze setzt auch durch die vielen Fotos eher auf eine Suggestivwirkung. Wenn wir dann noch mit 9/11 konfrontiert werden mit der Attitüde „Wissen Sie denn das?“, dann setzt das nur noch auf Suggestivwirkung und nicht mehr darauf, aus einer heterogenen Quellenlage eine präzise Beweisführung zu liefern, die den Maßstäben der Historiker genügen kann. Wenn wir von 9/11 über Rainbow Warrior alles auf einmal vorgeführt bekommen und dann mit dieser Attitüde „Das müssen Sie wissen!“ einzelne Sachen wie dieser dritte Tower dort von 9/11 herausgegriffen werden, dann, finde ich, ist das eine Methode, mit der wir dort sozusagen vorgeführt werden, die auf Überrumpelung setzt, aber nicht mehr auf die Kraft von Argumenten, weil ja auch bezeichnenderweise nie eine Gegenseite vorgeführt wird. Es gibt offenbar Leute, die zu diesen Themen andere Positionen vertreten, von denen hören wir nichts. Deren Argumente werden überhaupt nicht präsentiert, sondern nur auf die Suggestivwirkung eines zusammenkrachenden Hauses, eines versenkten Schiffes. Punkt. Damit ist die Sache erledigt.
SB: Um noch einmal auf Ihre Arbeit zurückzukommen: Wie würden Sie denn eine juristisch sorgfältige Art und Weise des Umgangs mit einem solchen Thema definieren?
TH: Diese Arbeit ist erst einmal notwendigerweise kleinschrittig. Ich kann keinen Vortrag halten, in dem ich Sie in einer halben Stunde durch die Jahrhunderte und -zig Länder schleppe, das bekomme ich nicht hin. Die Arbeit muß dann sehr viel kleinteiliger sein, sie muß nahe an den Quellen sein, und es muß ein Abwägen sein. Justitia hat auch auf dem Veranstaltungsplakat hier typischerweise eine Waage in der Hand. Der Historiker hat eine etwas andere Waage, weil er nach anderen Maßstäben operiert. Aber auch der Historiker muß Plausibilitäten abwägen, wenn er sich mit den konkreten Fällen wie beispielsweise dem Oktoberfestattentat beschäftigt und muß dann eben auch in die Peilung nehmen, daß der Geschehensablauf möglicherweise zur Zeit nicht nach den Maßstäben der Historiker aufklärbar ist. Man muß damit leben können, daß möglicherweise auch ein ganz banaler Geschehensablauf zugrundeliegt, der nicht den Charme einer wunderbaren Erzählung hat. Es wäre doch wunderbar, wenn die Mondlandung ein ganzer Fake wäre, eine tolle Geschichte, das macht Spaß, diese Geschichte aufzudecken.
SB: Können Sie mir nach diesen Maßstäben einer Quellensicherheit, wie sie vielleicht auch für Juristen akzeptabel sind, sagen, welche Hinweise und Fakten, die die deutsche Geschichte nach 1945 betreffen, es in der bundesrepublikanischen Justiz zu diesem Thema gibt? Gibt es etwas, das sich da sozusagen gerichtsrelevant anführen läßt, um mögliche Skeptiker über Gladio-Strukturen auch in Deutschland zu informieren?
TH: Ich denke, es ist nicht schwierig zu vermuten, daß es umfangreiche Vorkehrungen gibt oder gab, nach einer Invasion sowjetischer Truppen eine Armeetätigkeit dann auch hinter den feindlichen Linien aufrechtzuerhalten. Das ist eine militärische Untergrundstruktur, die ist vorbereitet, das machen alle Armeen so. Das betrifft diesen „Stay behind“-Teil, der jetzt erst einmal für Militärhistoriker relevant ist. Was uns hier mehr interessiert, sind die Aktivitäten, die solche tendentiell unterbeschäftigten Gruppen vor der Invasion oder wenn diese ganz ausbleibt beginnen zu entfalten, wenn sie eine Affinität zum rechtsextremen Milieu haben oder plötzlich eingebunden werden in Formen der Inszenierung von Terrorismus, um bestimmte Meinungsumschwünge in der Bevölkerung zu erreichen.
Dazu gibt es das berühmteste Beispiel, das überhaupt nicht auftaucht, obwohl es gut dokumentiert ist. Das ist das sogenannte Celler Loch, bei dem Geheimdienststrukturen einen Anschlag inszeniert haben, um einen V-Mann mit einer passenden Legende zu versehen und ihn in linksterroristische Strukturen zu integrieren. Das wurde so dilettantisch organisiert, daß innerhalb weniger Tage, weniger Stunden auffiel, daß das nicht wahr sein konnte. Ansonsten sind relevante inlandsgeheimdienstliche Tätigkeiten im Bereich des Terrorismus wenig bekannt. Es gibt sicherlich Verwicklungen der Geheimdienste in linksterroristische Aktivitäten, aber auch dort ist bisher quellenmäßig nicht soviel belegt.
Die Vermutungen sind sehr stark, nur man bewegt sich eben doch in einem Geflecht von Lügen. Alle Beteiligten lügen und wollen im nachhinein ihre Beteiligung aus strafrechtlichen Gründen und im
Hinblick auf ihre Wirkung in der Geschichtsschreibung verbessern. Also wird dort ein hochkompliziertes Lügengeflecht erfunden, in dem dann die Geschichtsschreibung besonders schwierig wird. Deshalb haben wir dort wenig, was wir wirklich nach den Maßstäben der Historiker im Moment präzise belegen können, zumal man ja auch einfach Aufschneidereien aufsitzen kann, auch das ist möglich. Wenn jemand dort Tagebücher schreibt und Pressemitteilungen herausgibt, kann man nicht alles eins zu eins glauben. Aus welchen Motivationen heraus wird etwas geschrieben, wieso werden solche Akten freigegeben? Die Quellenkritik sollte auch dann nicht enden, wenn man meint, jetzt habe man etwas gefunden. Das kann bloße Aufschneiderei sein. Insofern ist dort nicht soviel zu finden. Solange wir über klandestine Strukturen eher raunen, beschäftigen wir uns nicht mit den Strukturen, die es tatsächlich und definitiv gibt, beispielsweise den Verfassungsschutz als Inlandsgeheimdienst.
SB: Das führt schon gleich zu meiner nächsten Frage nach der politischen Relevanz von „Gladio“ und „Stay behind“ heute. Jetzt einmal zurückgekoppelt von denjenigen, die sich dafür ohnehin interessieren und auch eine gewisse Affinität zu der Faszination der Geheimdienstsphären haben, auf das Gros der Bevölkerung, das davon so gut wie nichts weiß, aber auch wenig Interesse hat: Für wie brisant und relevant würden Sie jetzt diese Fragen unter demokratischen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten halten? Gibt es in dieser gesamten Problematik irgendwo einen Kern, von dem jeder Mensch betroffen sein könnte, weil doch die Lebensverhältnisse insgesamt berührt werden?
TH: Im Hinblick auf das Oktoberfestattentat, denke ich, ist es auf jeden Fall sinnvoll, dort genauer hinzuschauen und sich mit dem Thema zu beschäftigen, denn das ist ein realer terroristischer Anschlag, bei dem die Verwicklung staatlicher Strukturen möglich ist. Ansonsten sollten die Maßstäbe wirklich nicht verrutschen. Der Verfassungsschutz hat mit der Kommunistenverfolgung, an der er mit den Berufsverboten maßgeblich beteiligt war, die Biographien tausender Menschen zerstört. Die Verfolgung Homosexueller durch Strafgerichte in den 1950er und 60er Jahren hat die Biographien von tausenden Männern zerstört. Das ist belegbar, damit kann man sich beschäftigen. Das geschah nicht im Geheimen, sondern ganz offiziell und ist bisher als Justizunrecht oder als Unrecht des sogenannten Verfassungsschutzes wenig bearbeitet worden.
Was die Gladio- und Stay-behind-Aktivitäten betrifft, liegen diese Dinge, bezogen jetzt auf Deutschland, doch in etwas geringeren Maßstäben vor. Natürlich hat in Italien, im Kontext des dort viel größeren Linksterrorismus, eine ganz andere Form der Auseinandersetzung stattgefunden. Dazu bin ich auch nicht kompetent zu sprechen, sondern ich beziehe mich jetzt wirklich immer nur auf Deutschland, und dort scheint mir die Relevanz des Themas auch nach dem Vortrag von Herrn Ganser, der relativ wenig auf Deutschland einging jenseits des Oktoberfestattentats, begrenzt zu sein, solange eben nicht wirklich Aktivitäten nachweislich in Verbindung mit Gladio- und Stay-Behind-Strukturen gebracht werden können. Etwas anderes ist das, was der Vortrag von Frau Igel zur Bedeutung der Stasi-Strukturen ergeben hat. Sicherlich, die Stasi hat auch tausende Lebensläufe zerstört. Da ist noch viel Arbeit einfach aufgrund der Masse zu leisten, auch vor Ort in den lokalen Strukturen. Damit sollte man sich beschäftigen, das ist real nachweisbares Unrecht. Das Raunen über Unrecht, was man nur vermutet, was aber nicht geschehen ist oder was man nicht belegen kann, finde ich, ist nicht so vorrangig.
Um noch einmal auf die Grundthese meines Eingangsstatements zurückzukommen: Das Anknüpfen an die paramilitärischen Freikorps-Strukturen, was in den 50er Jahren versucht wurde, war nur begrenzt erfolgreich, weil eine Professionalisierung im Inlandsgeheimdienst, also im Verfassungsschutz, und in der Armee, auch im Militärischen Abschirmdienst, stattgefunden hatte. Das andere tauchte offenbar beim Oktoberfestattentat auf, was jetzt auch in dem Luxemburger Prozeß erörtert wird, nämlich daß einzelne Gruppen Waffenlager horteten und Listen führten. Aber vor dem Oktoberfestattentat sind keine größeren terroristischen Aktivitäten bekanntgeworden, die damit in einem Kontext stehen, jedenfalls in der Literatur nicht aufgeführt.
Was Herr Ganser beschreibt mit diesen Kriminalbeamten in den 50er Jahren, daß jemand zur Polizei geht und man tatsächlich ein bißchen Waffen findet – verstehen Sie, wenn das schon alles war, dann finde ich das nicht so spektakulär, wenn ich mir anschaue, was die Kommunistenverfolgung nachweislich und real bei Tausenden von Opfern ausgelöst hat.
SB: Eine Frage noch hier zum Kongreß: Sie sind als Referent wie auch als Teilnehmer gekommen. Wie waren Ihre Erwartungen, können Sie schon ein Zwischenfazit ziehen und was erhoffen Sie sich von dem Kongreß?
TH: Die NATO ist ein ganz großes Thema. Für mich als Rechtshistoriker und Jurist ist natürlich die Frage besonders spannend, wie man rechtliche Strukturen auf militärische Aktivitäten anwenden und damit auch versuchen kann, dort Recht und Unrecht zu unterscheiden und militärische Aktivitäten zu bändigen. Dieses große Thema klang gestern schon in der Anfangsdiskussion an, gerade auch beim Vortrag von Herrn Merkel [3], der ein Konzept hat, wie man es rechtlich bändigen kann, oder auch bei den Erzählungen des Herrn Grafen von Sponeck [4], der deutlich machte, wie in der Realität diese rechtlichen Vorgaben mißachtet werden. Das ist ein sehr, sehr spannendes Thema, das aber auf so einer Tagung, die so groß ist und sich mit der NATO insgesamt, ihrer Geschichte und ihren Aktivitäten in der ganzen Welt befaßt, möglicherweise ein bißchen zerfließt. Die NATO in allen Zeiten und allen Ländern, da löst sich diese Frage dann in sehr globalen und allgemeinen Überlegungen auf. Bei all dem Unrecht wiederum, das die NATO in der Welt verursacht hat und verursacht, scheinen mir diese Gladio-Aktivitäten ein durchaus kleinerer Teil zu sein. Die Menge an Unrecht, über die man dort berichten kann, ist im Vergleich zu dem, was in Afghanistan geschieht oder im Irak-Krieg oder ähnlichen doch relativ gering.
SB: Wie würden Sie denn die Frage des Kongreßtitels „Quo vadis NATO?“ beantworten?
TH: Mir scheint das Statement, das Herr Deiseroth von Helmut Schmidt [5] anführte, sehr klug zu sein. Er hat damit diese Institutionenkonkurrenz angesprochen. Die NATO hat ihren Feind verloren, und wie solche Strukturen nun einmal sind, wollen sie weiterbestehen. In einer multipolaren Welt muß auch die NATO Erfolge aufweisen, um als Organisation überleben zu können. Da heißt „Quo vadis NATO?“ wohl erst einmal, daß die NATO im Kontext nationaler Armeen als Militärbündnis weiter wahrgenommen werden möchte als ein wichtiger Global Player, als eine große Bürokratie, die nicht nur Papiere schreibt, sondern tatsächlich etwas bewirkt. Wenn man das als politisches Ziel formulieren möchte, dann würde „Quo vadis NATO?“ die Möglichkeit betreffen, diese Militäraktivitäten juristisch einzuhegen und Wege zu finden, um die Beteiligten individuell oder auch kollektiv den Maßstäben des Rechts verstärkt zu unterwerfen. Wenn wir dort weiterarbeiten könnten mit dem Ansatz von Herrn Merkel, den ich nicht im Detail teile, dann wäre das etwas, das man rechtlich werten kann. Unter dieser Perspektive ist der Kongreßtitel, denke ich, sehr weiterführend. Man kann daraus etwas entwickeln, denn dort gibt es noch viel zu entdecken. Mich erinnert das ein bißchen an die große Entdeckung der 68er.
Das Grundgesetz, das war schon vorher da. Die große Entdeckung der 68er aber war: Wir können mit den Prozeßordnungen etwas anfangen – mit der Strafprozeßordnung, mit der Zivilprozeßordnung und mit der Verwaltungsgerichtsordnung. Damit können wir arbeiten. Wir bringen die Verhältnisse zum Tanzen, indem wir diese Prozeßordnungen benutzen! Das war für die beteiligten Juristen an den Gerichten erst einmal ganz überraschend, und die Erfolge waren sehr, sehr groß. Bis heute ist klar: Das wichtigste Instrument eines linken Anwalts ist die Prozeßordnung. Bezogen auf die NATO scheint mir noch ein großes, nicht gehobenes Potential darin zu bestehen, mit materiellen Kategorien, die Herr Merkel schon vorgeführt hat, aber eben auch mit prozessualen Kategorien die Militärtätigkeit einzuhegen und sie nicht in einem rechtsfreien Raum, wo man sowieso machen kann, was man will, zu lassen. Deshalb sind die Aktivitäten, mit denen versucht wird, Diktatoren und Militärangehörige beispielsweise wegen der Bombardierung des Kundus-Lasters vor Gericht zu stellen, ausgesprochen wichtig. Das ist natürlich wieder viel kleinteiliger als das große Panorama, wenn Sie sich mit einem einzigen Tanklaster beschäftigen, der da bombardiert wird, aber diese Einhegung durch das Recht scheint mir ein großes Potential zu bergen. Wenn wir das durch diese Tagung noch ein bißchen befördern können, finde ich, kommt man da sehr gut voran. Das ist bei dem Kundus-Laster schon relativ gut gelungen, auch mit Hilfe von Herrn Deiseroth und anderen.
SB: Spricht da aus Ihnen der „alte 68er“, wenn ich das zum Abschluß einmal so fragen darf?
TH: Naja, sagen wir einmal so: 68 war ich noch nicht einmal eingeschult, dazu bin ich ein bißchen zu jung. Aber die Möglichkeit, Recht als Gestaltungsmittel für Gesellschaftsveränderung zu verwenden, ist natürlich etwas, was mich geprägt hat, was aber häufig nicht so spektakulär ist wie manches andere, wenn moralisch viel aufgeladenere Kategorien benutzt werden. Juristen machen da manchmal sehr trockene, sehr kleinteilige Arbeit. Also ein 68er bin ich nicht, aber natürlich beruht unsere Arbeit auf dem, was die 68er erreicht haben. Das gilt auch, nicht direkt, aber so Stück für Stück, für ein Thema, das auf diesem Kongreß merkwürdigerweise noch gar nicht thematisiert wurde. Wir sprechen immer über Männer. Es sind ja auch männliche Selbstdefinitionen, die diese Form klandestiner Geheimdiensttätigkeit prägen, und auch dort hat sich nach 68 sehr, sehr viel verändert. Wir haben es schon geschafft, militärische Strukturen weitgehend aus der Gesellschaft, aus dem offenen Auftreten zu verbannen. Sie werden kaum noch Uniformträger auf dem Abschlußball Ihrer Tochter sehen. Der Reserveoffizier kommt nicht mehr in Uniform. Da hat sich schon sehr, sehr viel verändert. Wenn die Bundeswehr Werbung aufhängt, weil sie Nachwuchs braucht, kann sie die nicht einfach an die Litfaßsäulen kleben, sondern sucht sich ganz spezielle Orte aus, wo diese Werbung geschützt ist. Dort wo ich wohne, ist das zum Beispiel im Bahnhof. Das hat sich ganz erheblich verändert, und insofern muß man nicht so pessimistisch in die Zukunft schauen.
SB: Vielen Dank, Herr Henne, für dieses Gespräch.
Fußnoten:
[1] „Gladio“ nannten die Römer das in ihren Armeen verwendete Kurzschwert. Spätestens seit den 1990er Jahren ist bekannt, daß die NATO in ihren Mitgliedstaaten unter diesem Begriff geheime paramilitärische Einheiten unterhielt, die – deshalb auch der Name „Stay behind“ – im Falle einer sowjetischen Invasion oder sozialistischen Erhebung hinter den dann feindlichen Linien operieren sollten. Für Aufsehen sorgte dies seit der Enthüllung des damaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti von 1990, der zwar die Existenz dieser Geheimbünde, nicht jedoch ihre aktive
Beteiligung am Kampf gegen den Kommunismus öffentlich einräumte. Ermittlungsbehörden und Gerichte befassen sich mit der juristischen Aufarbeitung oder auch Nicht-Aufarbeitung von Anschlägen, die einen solchen Hintergrund aufweisen. Bereits 1989 hatte in Italien eine parlamentarische Untersuchungskommission festgestellt, daß in vierzig Fällen als rechtsterroristisch geltender Anschläge eine aktive Rolle von Geheimdiensten nachgewiesen werden konnte. Gegenwärtig sorgt in Luxemburg, von den übrigen NATO-Staaten wenig beachtet, ein Prozeß für Aufsehen, in dem es um die Beteiligung des luxemburgischen Geheimdienstes an Gladio bzw. einer Anschlagsserie in den 1980er Jahren geht unter möglicher Mitwirkung auch des Bundesnachrichtendienstes (BND).
[2] Am 26. August 1921 wurde der damalige Zentrumspolitiker Matthias Erzberger ermordet von zwei Studenten, die nach Ermittlungen der Polizei zur Organisation Consul gehörten, einer nationalistischen Geheimorganisation, deren aus ehemaligen Reichswehroffizieren und Angehörigen der Freikorps rekrutierten Mitglieder durch politische Morde die junge Republik erschüttern wollten. Am 24. Juni 1922 ermordeten Angehörige dieser Organisation den deutschen Außenminister Walther Rathenau.
[3] Siehe Berichte u.a. zu Prof. Merkels Vortrag und Interview im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/148: Quo vadis NATO? – sowohl als auch … (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0148.html
BERICHT/149: Quo vadis NATO? – gedehntes Recht und Kriege
(SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0149.html
INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? – Interventionsgefahren (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0168.html
[4] Siehe Interview mit Hans-Christof Graf von Sponeck im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? – Desaster der Mittel – Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0169.html
[5] Dr. jur. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, führte in seinem Vortrag „Zur rechtlichen Relevanz von Terrorismus und Anti-Terrorismus“ ein Zitat von Helmut Schmidt zur NATO aus dem vom ehemaligen Chefredakteur der ZEIT, Theo Sommer, verfaßten Buch „Unser Schmidt“ stammt: „In Wirklichkeit ist sie (die NATO), überflüssig. Man muß dabei deutlich unterscheiden zwischen dem Bündnis der nordatlantischen Staaten, dem Nordatlantik-Pakt – den würde ich, Helmut Schmidt, jedenfalls aufrechterhalten wollen für die nähere Zukunft. Etwas anderes ist die nordatlantische Vertragsorganisation. Diese Riesenkrake von Bürokratie, teils militärisch, teils zusammengesetzt aus Diplomaten und Tausenden von Hilfskräften. Die waren eine Reihe von Jahren verzweifelt auf der Suche nach einem Feind. Jetzt haben sie eine ganz große Aufgabe gefunden: Afghanistan. In Wirklichkeit ist diese Organisation nicht notwendig. Objektiv gesehen handelt es sich heute um ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik, der amerikanischen Weltstrategie.“
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de