Legalismen
BERICHT/164: Quo vadis NATO? – Legalismen (SB)
Kriegführung mit parlamentarischem Tarnanstrich
Podiumsdiskussion „Parlamentsentscheidung über Streitkräfte-Einsatz“ in der Arbeitsgruppe I „Militärische Einsätze – ihre rechtliche und demokratische Kontrolle“ auf dem Bremer Kongreß „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ am 27. April 2013
Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg herrschte auch nach dem Zweiten in der Bundesrepublik Deutschland die Überzeugung vor, daß nie wieder „von deutschem Boden“ Krieg ausgehen dürfe. An eine Wiederbewaffnung Deutschlands war zunächst nicht zu denken, galt doch das ersatzlose Fehlen einer Armee als einzig wirksamer Garant, um der pazifistischen Grundstimmung für alle Zeiten Wirklichkeit zu verleihen. Die Pläne der westlichen Siegermächte, allen voran der USA, waren jedoch mit einem entmilitarisierten und neutralen deutschen Staat nicht zu realisieren. Aus den westlichen Besatzungszonen wurde ein Frontstaat im beginnenden „Kalten Krieg“ gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten, der dieser Aufgabe ohne Wiederbewaffnung und NATO-Beitritt nicht hätte nachkommen können.
Im Grundgesetz vom 23. Mai 1949 wurde die Entmilitarisierung keineswegs festgeschrieben. Anstelle eines Verbots, eigene Streitkräfte aufzustellen, enthielt es in Art. 24 Abs. 2 vielmehr einen Türöffner für den am 6. Mai 1955 erfolgten NATO-Beitritt der Bundesrepublik, heißt es doch dort, daß sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ könne und dazu „in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen“ werde. Die Wiederbewaffnung mußte gegen massive Widerstände durchgesetzt wer den. Am 12. November 1955 erhielten die ersten Bundeswehrsoldaten ihre Ernennungsurkunden. Am 22. Mai 1956 wurde das Grundgesetz der Wiederbewaffnung angepaßt durch den Art. 87a, der die Aufstellung der Streitkräfte regelt. Bereits am 6. Mai 1955 war die Bundesrepublik Deutschland der 1949 gegründeten NATO beigetreten. Aus Sicht der Sowjetunion und ihrer Verbündeten war dies alles andere als ein friedlicher Schritt. Nur wenige Tage später, am 14. Mai 1955, wurde der Warschauer Pakt als Pendant zur NATO gegründet.
Bis zur sogenannten Wende der Jahre 1989/90 hätten sich wohl nur wenige vorstellen können, daß die Bundeswehr jemals zu Kampfeinsätzen im Ausland eingesetzt werden könnte, heißt es doch in Art. 87a Abs. 2 des Grundgesetzes klipp und klar, daß die Bundeswehr „außer zur Verteidigung“ nur eingesetzt werden dürfe, insoweit das Grundgesetz dies ausdrücklich zulasse. Diese Ausnahmen sind schnell aufgezählt: In Abs. 3 und 4 von Art. 87a ist der Schutz ziviler Objekte im Verteidigungs- oder Spannungsfall geregelt sowie ihr – heftig umstrittener – Einsatz im Innern; ferner regelt Art. 35 Abs. 2 und 3 die Möglichkeit, die Streitkräfte bei Naturkatastrophen oder schweren Unglücken einzusetzen. Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland sind im Grundgesetz weder vorgesehen noch geregelt. Sie stellen einen, wenn man denn so wollte, verfassungsrechtlichen Tabubruch dar.
Offenbar sind die maßgeblichen politischen Eliten Deutschlands jedoch gewillt und entschlossen, in die allererste Riege der Weltpolitik aufzusteigen, wofür es erforderlich ist, auch mit militärischen Mitteln für die Durchsetzung globalhegemonialer Interessen einzutreten. Auch die höchsten juristischen Entscheidungsträger scheinen bereit zu sein, sich einem solchen klammheimlichen Konsens unterzuordnen. Das Bundesverfassungsgericht „kittete“ den Dammbruch und urteilte 1994 nach Anträgen der damals oppositionellen SPD-Bundestagsfraktion, daß Bundeswehreinsätze „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit, womit die NATO und die Vereinten Nationen gemeint waren, nach Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes legitim seien. Bei dieser bahnbrechenden und kriegslegitimierenden Entscheidung wurde Art. 87a des Grundgesetzes, der Kampfeinsätze nur zu Verteidigungszwecken ermöglicht, einfach ignoriert. [1]
Das Bundesverfassungsgericht gilt in Fragen der Verfassungsauslegung als alleinige Autorität. Wie es um seine postulierte Unabhängigkeit tatsächlich bestellt sein mag, läßt sich erahnen, wenn man bedenkt, daß seine Mitglieder von Bundestag und Bundesrat gewählt werden, womit gewährleistet wird, daß niemand ins Bundesverfassungsgericht berufen wird, dessen Positionen nicht mit den „Wünschen“ der Politik korrespondieren. In das Grundsatzurteil von 1994 schrieb das Bundesverfassungsgericht, wie um das eigentlich Skandalöse dieser Entscheidung ein wenig abzuschwächen, den sogenannten „Parlamentsvorbehalt“ mit hinein. Der beinhaltet im Grunde nicht mehr, als daß Auslandseinsätze der Bundeswehr durch eine Bundestagsmehrheit, über die eine amtierende Bundesregierung ohnehin verfügen dürfte, abgesegnet werden müssen. 2005 wurde dazu das Parlamentsbeteiligungsgesetz geschaffen.
Dem Thema Parlamentsentscheidung über den Streitkräfteeinsatz wurde auf dem Bremer Kongreß „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ am 27. April 2013 in einer Arbeitsgruppe zur rechtlichen und demokratischen Kontrolle militärischer Einsätze eine Podiumsdiskussion gewidmet. Nach den einleitenden Worten des Moderators, des Rechtsanwalts, langjährigen Gewerkschaftsjuristen und Generalsekretärs der „Europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt“ (EJDM), Thomas Schmidt, ergriff als erster Diskutant der Bundestagsabgeordnete, ehemalige Verwaltungsrichter und langjährige innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Dieter Wiefelspütz, das Wort.
Er lobte die Bundesrepublik Deutschland, weil der „bewaffnete Arm“ keines anderen Landes so massiv unter parlamentarischer Kontrolle stünde wie die bundesdeutschen Streitkräfte. Dies sei zwar nicht eine Erfindung des Parlaments, sondern des Bundesverfassungsgerichts durch seine rechtswissenschaftlich in Dogmatik und Ableitung hoch umstrittene Entscheidung von 1994. Der Parlamentsvorbehalt sei inzwischen Verfassungsgewohnheitsrecht und Wiefelspütz zufolge eine der größten Errungenschaften des Verfassungsstaates Deutschland, die es wert wäre, mit Händen und Füßen verteidigt zu werden. Um die besondere parlamentarische Qualität der Bundesrepublik in diesem Punkt zu unterstreichen, stellte der SPD-Politiker einen Vergleich zu anderen westlichen Staaten an.
Es wundere ihn, so Wiefelspütz, daß in „so entwickelten Demokratien wie Großbritannien“ zentrale Entscheidungen wie Krieg und Frieden ausschließlich eine Sache der Exekutive sind. Er stellte die These auf, daß der damalige britische Premierminister Tony Blair, hätte es dort auch einen Parlamentsvorbehalt gegeben, keine Truppen in den Irak und damit in einen Angriffskrieg hätte schicken können. Für die Anwesenden stellte sich diese These nicht unbedingt als überzeugend dar, zumal der britische Rechtswissenschaftler Prof. Bill Bowring in derselben Kongreßarbeitsgruppe kurz zuvor dargelegt hatte, daß es vor dem Irakkrieg eine Parlamentsdebatte über die Beteiligung Großbritanniens gegeben hatte, in der den Abgeordneten allerdings, wie später nachgewiesen werden konnte, von der britischen Regierung Lügen über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak und weitere Angelegenheiten aufgetischt worden waren, um ihnen eine Zustimmung abzuringen. [2]
Wiefelspütz verteidigte den Parlamentsvorbehalt gegen Kritik aus Wissenschaft und Politik, wie sie in Debatten immer wieder vorgebracht werde, nämlich daß er viel zu umständlich sei und im Parlament einfach nur gequasselt werden würde von Leuten, die keine Ahnung hätten. All diesen Anwürfen erteilte der SPD-Politiker eine unmißverständliche Abfuhr. Er halte solche Debatten für „kompletten Schwachsinn“ und vertrete eher die Auffassung, daß „andere Staaten von uns lernen sollten an der Stelle“. Außerdem sei es empirisch erwiesen, daß der Bundestag sehr wohl in der Lage ist, im Notfall innerhalb von 24 Stunden komplexe Entscheidungen zu treffen. Im Grunde werde bei uns nach einem „Vier-Augen-Prinzip“ verfahren, denn nur wenn Bundesregierung und Parlament „Ja“ sagten, können Bundeswehrsoldaten in einen Auslandseinsatz geschickt werden.
Abschließend erklärte Wiefelspütz, daß der „im Grunde einzigartige“ Parlamentsvorbehalt in Deutschland nicht das letzte Wort sein müsse. Man könne ihn sogar noch erweitern in Hinsicht auf eine direkte Demokratie, deren „leidenschaftlicher Befürworter“ er sei. Der scheidende Bundestagsabgeordnete, der bei der Bundestagswahl am 22. September nicht wieder kandidiert hat, kündigte in Bremen einen Gesetzentwurf für eine große Grundgesetzänderung für Volksentscheide, -initiativen und -begehren sowie für Referenden an. Wiefelspütz vertrat die Auffassung, daß dem Volk die Möglichkeit gegeben werden sollte zu sagen: Sofortiger Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Seine persönliche Auffassung sei das zwar nicht, er würde einen Abzug in einem gestuften Prozeß bevorzugen, aber das Volk sollte das entscheiden können. Man müsse sich jedoch darüber im klaren sein, daß rechts- und menschenrechtswidrige Kriege auch bei einem Parlamentsvorbehalt denkbar und vorstellbar sind, weil sich nicht nur das Parlament, sondern auch das Volk „irren“ könnte. Wiefelspütz bezeichnete den Parlamentsvorbehalt als eine zusätzliche Sicherung und ein Instrument der Friedenspolitik.
Bei den übrigen Podiumsdiskutanten wie auch den Zuhörenden stieß dieser Lobgesang auf den Parlamentsvorbehalt als einer funktionierenden parlamentarischen Kontrolle militärischer Einsätze nicht unbedingt auf ungeteilte Zustimmung. Eine Diskussion beispielsweise der naheliegenden Frage, ob die von Wiefelspütz in Hinsicht auf Kriegsentscheidungen bemühten möglichen „Irrtümer“ von Regierung, Parlament und Volk nicht zu verhindern wären, wenn, wie in Art. 87a Abs. 2 GG festgeschrieben, Kampfeinsätze der Streitkräfte „nur zur Verteidigung“ durchgeführt werden, blieb schon aus zeitlichen Gründen aus.
Der nächste Diskutant war Dr. Sebastian Roßner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er vertrat die Auffassung, daß es bei dem Parlamentsvorbehalt um Legitimationsfragen nach innen gehe. Was müsse getan werden, um gegenüber dem Souverän, also dem Volk, solche Entscheidungen über Gewalteinsätze letztlich rechtfertigen zu können?
Roßner sprach sich dafür aus, in der Debatte um den Parlamentsvorbehalt darauf zu achten, ob das Parlament in allen Punkten optimal ausgestattet sei und über die Ressourcen verfüge, die Zweck-Mittel-Relation des zu genehmigenden Einsatzes angemessen zu beurteilen. Er schlug vor, die Rahmenbedingungen einer solchen parlamentarischen Entscheidung nicht unberücksichtigt zu lassen und führte zur Veranschaulichung an, wie die Regierung Schröder seinerzeit die Bundestagszustimmung zum Afghanistankrieg erwirkt hatte, nämlich dadurch, daß der damalige Kanzler die Entscheidung mit der Vertrauensfrage verknüpfte. Kritische Stimmen in der eigenen Koalition wurde dadurch zum Verstummen gebracht. Der Diskutant machte darauf aufmerksam, daß eine Parlamentsmehrheit unter extrem starken Druck gesetzt werden könne durch Faktoren, die mit der eigentlichen Sachentscheidung nichts zu tun hätten. Damals habe es auch im Parlament erhebliche Gruppen gegeben, die mit der Entscheidung für den Afghanistankrieg überhaupt nicht einverstanden gewesen waren.
Tobias Pflüger vom Parteivorstand der Linken, ehemaliger Abgeordneter der Linksfraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament, wo er von 2004 bis 2009 im Unterausschuß für Sicherheit und Verteidigung des Auswärtigen Ausschusses tätig gewesen war, zeichnete in seinem Diskussionsbeitrag ein zu Wiefelspütz‘ Darstellung konträres Bild vom Parlamentsvorbehalt. Pflüger bezeichnete es als Problem, daß durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 die Festlegung des Grundgesetzes auf Bundeswehreinsätze nur zu Verteidigungszwecken de facto außer Kraft gesetzt wurde. Seither werden Auslandseinsätze über diese Gerichtsentscheidung legitimiert unter zwei Voraussetzungen, nämlich daß sie im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems stattfinden und daß es zuvor eine grundsätzliche konstitutive Zustimmung gibt. Nach Ansicht des Linkspolitikers ist schon die erste Voraussetzung sehr problematisch. Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde die NATO zu einem „kollektiven Sicherheitssystem“ erklärt, was dieses Militärbündnis überhaupt nicht sei. Die Vereinten Nationen könnten so bezeichnet werden, unter Umständen auch die OSZE, aber die NATO auf keinen Fall.
Aus seiner Zeit im Sicherheits- und Verteidigungsunterausschuß des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments berichtete der Referent aus eigener Anschauung über die dortige Praxis der parlamentarischen Kontrolle militärischer Einsätze. Oft habe der Ausschuß aus den Medien erfahren, daß die Europäische Union Soldaten in einen Einsatz schicken wolle. Das tatsächliche Entscheidungsgremium sei, in Rückkopplungen mit den Regierungen, das sogenannte „Politische und Sicherheitspolitische Komitee“ (PSK) gewesen, bestehend aus den Botschaftern der einzelnen Mitgliedstaaten bei der EU. Das habe dann so ausgesehen, daß immer ‚mal jemand vom PSK im Ausschuß vorbeikam und von den Einsatzplanungen erzählte. Wenn Ausschußmitglieder konkretere Fragen stellten, bekamen sie keine Antwort. Eine parlamentarische Kontrolle gab es nicht und konnte überhaupt nicht stattfinden. Das Parlament spielt explizit keine Rolle, wie auch im Lissabon-Vertrag festgeschrieben ist, daß weder der Europäische Gerichtshof noch das Europäische Parlament in diesen Fragen mitreden können.
Wie Pflüger berichtete, habe er seinerzeit die Kolleginnen und Kollegen des deutschen Bundestags beneidet, weil sie zumindest im Verteidigungsausschuß etwas detailliertere Informationen bekamen. Doch auch in Deutschland sei die parlamentarische Kontrolle problematisch. So gäbe es zum Beispiel in dem Parlamentsbeteiligungsgesetz eine Reihe von Lücken. Als ein Beispiel benannte er das „vereinfachte Zustimmungsverfahren“. Das bedeutet, daß, wenn keine Fraktion widerspricht, bei bestimmten Bundeswehreinsätzen im Bundestag überhaupt nicht abgestimmt werden muß und die Exekutive die Zustimmung erteilt. Bei der nachträglichen Zustimmung, bei der eine Entscheidung so schnell getroffen werden müsse, daß der Bundestag erst im nachhinein um seine Zustimmung gefragt werden könne, sei überhaupt nicht geklärt, wie Pflüger anmerkte, was passieren würde, wenn das Parlament die Zustimmung verweigerte.
Der Parlamentsvorbehalt werde Stück für Stück immer weiter ausgehöhlt, so die Einschätzung des Linkspolitikers. Dies geschähe auch durch das „Pooling and Sharing“, wie die Programme der gemeinsam von verschiedenen Armeen durchgeführten Militäreinsätze sowohl in der Europäischen Union als auch in der NATO genannt werden. Da diese Programme, wie auch auf dem NATO-Gipfel in Chicago beschlossen, noch weiter ausgebaut werden sollen, sei es praktisch kaum noch möglich, den Parlamentsvorbehalt sinnvoll einzusetzen. Da werde es dann nur noch so eine Art Durchwinken geben. Pflüger zufolge wird der eigentlich sehr wichtige Parlamentsvorbehalt durch die Praxis schleichend immer weiter aufgebrochen. Der Gipfel sei die 15:1-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der der Bundeswehreinsatz im Innern bei Vorkommnissen katastrophischer Ausmaße ermöglicht wurde. [3] Der Referent zitierte dazu aus der Begründung des einzigen Richters am Bundesverfassungsgericht, Reinhard Gaier, der dazu eine abweichende Meinung vertreten hatte:
Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte ist das nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.
Pflüger zog das Resümee, daß der Parlamentsvorbehalt eine wichtige Grundlage sein könnte, aber inzwischen ein Sieb ist. Das Parlament grundsätzlich und ausnahmslos im Vorwege mit sämtlichen Einsätzen zu befassen, werde angesichts dessen, was militärisch gedacht und geplant sei, überhaupt nicht mehr gewollt. Deshalb sei es auch relativ klar, daß immer wieder an den Parlamentsvorbehalt herangegangen werden wird. Ihn zu verteidigen, sei das eine. Das zweite sei jedoch, daß viel zu wenig darüber diskutiert werde, was die jeweiligen Auslandseinsätze wie zum Beispiel in Afghanistan überhaupt bedeuteten. Würde die Bevölkerung ehrlicher aufgeklärt werden darüber, was da tatsächlich geschieht, würde es, so Pflügers These, eine deutliche Mehrheit für einen sofortigen Rückzug der Bundeswehr geben.
Zu dem von Wiefelspütz angesprochenen Thema Irakkrieg erklärte er, daß die Regierung Schröder gegen den Krieg geredet und alles dafür getan habe, ihn zu ermöglichen. Es müsse sehr viel offener und direkter über die Einsätze der Bundeswehr aufgeklärt werden, so Pflügers Fazit. Der Parlamentsvorbehalt wäre ein Schritt, irgendwie eine Kontrolle der deutschen Kriegspolitik hinzubekommen.
Der vierte Diskutant war Rechtsanwalt Dr. Peter Becker, der mehrfach als Prozeßbevollmächtiger vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgetreten ist. Er ging zunächst auf das Parlamentsbeteiligungsgesetz von 2005 ein, durch das auf Antrag der Bundesregierung das Parlament um seine Zustimmung zu Militäreinsätzen gefragt wird. Wie Becker kritisierte, kann der Bundestag dem Antrag nur zustimmen oder ihn ablehnen. Eigene Änderungen einzubringen, sei den Parlamentariern durch das Gesetz verwehrt. Eine solche Regelung erlaube es, alles Mögliche auszublenden. Nach § 3, Abs. 2 des Gesetzes müsse die Bundesregierung in ihrem Antrag den Einsatzauftrag, das Einsatzgebiet und die rechtlichen Grundlagen angeben, nicht jedoch, warum der Einsatz überhaupt gemacht werden solle! Becker bemängelte auch, daß lediglich Angaben zu den rechtlichen Grundlagen erforderlich sind und nicht explizit angegeben werden müsse, wie es um die bei solchen Einsätzen zumeist höchst problematische völkerrechtliche Lage bestellt ist.
Wiefelspütz warf ein, daß die Einsätze zu 98 Prozent durch UN-Mandate gedeckt seien. Becker hielt dem entgegen, daß die beiden Kriegseinsätze, über die viel gestritten werde, nämlich der Jugoslawienkrieg und die sogenannte „Operation Enduring Freedom“ (OEF) in Afghanistan, ohne UN-Mandat geführt wurden bzw. werden. Um die Problematik zu verdeutlichen, erinnerte er an die UN-Resolutionen 1160 und 1199, in denen massiv darauf eingegangen worden war, daß „die Auseinandersetzung im Kosovo aus den Provokationen der UCK entstanden ist und daß die UCK in riesigem Umfang über die Serben hergefallen ist“. Becker kritisierte, daß über diesen Aspekt in dem Antrag der Bundesregierung kein Wort zu finden war, was Wiefelspütz mit den Worten „das ist richtig“ anerkannte.
Als nächsten, sehr kritischen Punkt auf dem Weg in den Jugoslawienkrieg benannte Becker, daß die deutsche Bundesregierung am 12. Oktober 1998 ihren Antrag dem Bundestag überreichte. Einen Tag später, am 13. Oktober, schlossen der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic und der US-Unterhändler Richard Holbrooke ein Abkommen über den Einsatz der OSZE, eine 2000 Menschen starke Beobachtermission in den Kosovo zu schicken. Der Antrag der Bundesregierung, mit dem der Bundestag ersucht wurde, der Beteiligung der Bundeswehr an möglichen Luftschlägen gegen Jugoslawien im Rahmen der NATO zuzustimmen, enthielt nicht ein Wort über diese Mission. Am 8. Oktober 1998 hatte der NATO-Rat je nach Anforderung eine auch militärische Intervention beschlossen; bereits am 1. Oktober war NATO-Generalsekretär Solana zu Militäraktionen gegen Jugoslawien ermächtigt worden. Am 16. Oktober debattierte der Bundestag über den Antrag der Bundesregierung auf der Basis von Ausführungen, in denen Informationen über die militärischen Angriffe der UCK fehlten. Der Bundestag stimmte, mit sehr wenigen Ausnahmen, dem Ermächtigungsantrag zu, der ohne weitere Aussprache ab dem 24. März 1999 als Rechtsgrundlage für die Bombardierung Jugoslawiens auch durch die Bundesluftwaffe verwendet wurde.
Auf dem Bremer Kongreß entspann sich an dieser Frage ein kleiner Wortwechsel zwischen Becker und Wiefelspütz, nachdem Becker erklärte, daß seiner Auffassung nach ein Antrag nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz auch Angaben darüber enthalten müsse, welcher Anlaß den möglichen Einsatz in einem Krisengebiet überhaupt ausgelöst habe. Das müsse beschrieben werden, diese Faktenerhebung sei eine sehr wichtige Aufgabe. Auf den Zwischenruf von Wiefelspütz, jeder Parlamentarier müsse selber wissen, was wir da eigentlich machten und was wir da wollten, entgegnete Becker, daß er die im Bundestag geführten Diskussionen sowohl vor dem Jugoslawienkrieg als auch vor dem OEF-Einsatz in Afghanistan nachgelesen habe. Über die Fakten seien nur sehr wenige Informationen in die Debatten eingebracht worden, was Wiefelspütz zu der Äußerung veranlaßte: „Vielleicht hatten wir auch gar nicht so ganz viele!“ Becker sah sich dadurch bestätigt – „genau, genau!“ -, woraufhin Wiefelspütz, wohl um die Situation irgendwie zu retten, anmerkte: „Vielleicht haben wir uns geirrt.“
Becker erklärte abschließend, daß der Bundesregierung das Friedensgebot des Grundgesetzes sowie die Friedensordnung der UN-Charta ins Stammbuch geschrieben werden müsse. „Wir haben die Erfahrungen aus den ganzen Kriegen, wo im Parlament gerungen wird, und trotzdem sind die eigentlichen Entscheidungen längst gefallen“, so der Diskutant, der dafür plädierte, in § 3 Abs. 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes Angaben über den Anlaß des Einsatzes sowie die Ergebnisse ziviler Konfliktlösungsbemühungen aufzunehmen. Angesichts der Praxis nach 19 Jahren Parlamentsvorbehalt sprach sich Becker für eine Verbesserung dieser von Wiefelspütz als international beispiellos hochgelobten Regelung aus.
Wiefelspütz‘ Vorschlag, nicht nur das Parlament, sondern sogar die Bevölkerung per Referendum über Auslandseinsätze der Bundeswehr abstimmen zu lassen, könnte sich als ein besonders gewiefter Schachzug erweisen. Eine dementsprechende Informations- bzw. Desinformationskampagne vorausgesetzt, könnte auf dem Wege die politische und juristische Verantwortung für etwaige Kriegsverbrechen von der Exekutive bzw. der Legislative auf den Souverän umgelastet werden. Der SPD-Politiker wird auf dem Bremer Kongreß mit diesem Vorstoß, für dessen etwaige Umsetzung er persönlich ohnehin nicht mehr verantwortlich zeichnen könnte, da er sein Bundestagsmandat in diesem Jahr abgibt, wohl ein ganz klein wenig Wahlkampf gemacht haben.
Wie einer soeben veröffentlichten Studie von Ekkehard Brose, Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt und bis Juni 2013 stellvertretender Leiter der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der NATO, zum Thema „Parlamentsarmee und Bündnisfähigkeit“ [4] zu entnehmen ist, steht keineswegs eine radikaldemokratische Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes bis hin zu Instrumenten direkter Volksentscheide auf der Agenda, sondern eine weitere Zurückschraubung dessen, was in der Bremer Podiumsdiskussion von mehreren Teilnehmern bereits als schrittweise Aushöhlung kritisiert wurde. So plädiert Brose in seiner Studie dafür, daß Bundeswehrsoldaten künftig an AWACS-Einsätzen oder den im Aufbau befindlichen Drohnenverbänden der NATO teilnehmen können, ohne daß eine formelle Entsendung vom Bundestag eingeholt werden muß; auch sollten die auf diesem Gesetz beruhenden Einschränkungen der Beteiligung deutscher Soldaten innerhalb der NATO-Kommandostrukturen beseitigt werden. Die deutsche Kriegführung bzw. -beteiligung scheint ihres parlamentarischen Tarnanstrichs mehr und mehr verlustig zu gehen.
Fußnoten:
[1] Ausführlich nachzulesen in: Einladung ohne Grenzen. Das Bundesverfassungsgericht zu Bundeswehreinsätzen. Von Prof. Dr. Martin Kutscha, in Wissenschaft & Frieden 2012-1: Schafft Recht Frieden?, S. 22-24
http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=1760
[2] Siehe auch den Bericht über den Vortrag von Prof. Bill Bowring im Faktencheck der Arbeitsgruppe I „Militärische Einsätze – ihre rechtliche und demokratische Kontrolle“ im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/163: Quo vadis NATO? – Selbstlegitimation (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0163.html
[3] BVerfG, 2 PBvU 1/11 vom 3.7.2012, Absatz-Nr. (1 – 89),
http://www.bverfg.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111.html
[4] Ekkehard Brose: Parlamentsarmee und Bündnisfähigkeit. Ein Plädoyer für eine begrenzte Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit – SWP-Studie S 18, September 2013
Dr. Peter Becker, Tobias Pflüger, Thomas Schmidt, Dr. Sebastian Roßner, Dr. Dieter Wiefelspütz (v.l.n.r.)
Foto: © 2013 by Schattenblick
Thomas Schmidt
Foto: © 2013 by Schattenblick
Dr. Dieter Wiefelspütz
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Dr. Sebastian Roßner
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Tobias Pflüger
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Dr. Peter Becker
Foto: © 2013 by Schattenblick