Trümmerrecht und Pyrrhussiege
INTERVIEW/180: Quo vadis NATO? – Trümmerrecht und Pyrrhussiege, Prof. Dr. Werner Ruf im Gespräch (SB)
„Das Menschenrechtsargument ist ungeheuer wichtig, aber es wird nur noch mißbraucht.“
Interview mit Prof. Dr. Werner Ruf am 28. April 2013 in Bremen
Menschenrechte sind heute in aller Munde. Was einst im Zuge einer Protestbewegung, die sich mit der papiernen Ächtung von Folter und illegitimer militärischer Gewalt nicht zufriedengeben wollte, aufgegriffen worden war, hat sich auf leisesten Sohlen längst ins Gegenteil verkehrt. Die Hoffnung, auf diesem Weg der eigenen Wunschwelt, in der keinem Menschen mehr eine Drangsal angetan oder auch nur angedroht werden kann, näherzukommen, ist mehr als unerfüllt geblieben. Denn um Menschen zu schützen, wird Menschen Gewalt angetan, werden Leib und Leben einschränkende Sanktionen verhängt, unliebsame Regierungen gestürzt, militärische Interventionen durchgeführt und Besatzungskriege angezettelt. Verwunderlich ist dies nicht, setzt doch ein solcher Appell eine übergeordnete Instanz voraus, der auf diesem Weg die Kompetenz zugebilligt wird, über die Gewährung und Durchsetzung der postulierten (Menschen-) Rechte zu entscheiden. Wer gegen Folter und Krieg aufbegehren wollte, hat damit das Zepter des Handelns im Grunde schon aus der Hand gegeben.
Auf der Gegenseite wurde die Menschenrechtsfrage wie ein ihr zugespielter Ball natürlich gern aufgegriffen und instrumentalisiert mit dem Ergebnis, daß die Behauptung, die NATO sei die größte Friedens- und Menschenrechtsschutzbewegung der Welt, keineswegs nur ein schlechter Scherz ist. Sie ist mindestens als bittere Realsatire zu bezeichnen, da es dem größten Militärbündnis der Welt und der sie tragenden sogenannten internationalen Staatengemeinschaft längst gelungen ist, die von ihr beanspruchte Rolle einer obersten Hüterin der Menschenrechte im Bewußtsein der meisten Menschen zu verankern. Zumindest ist dies in den westlichen Führungsstaaten gelungen, während es in den übrigen, potentiell von einem solchen „Menschenrechtsschutz“ betroffenen Regionen der Welt um diese Akzeptanz deutlich schlechter bestellt ist.
Doch auch hierzulande mehren sich kritische Stimmen, die dem bösen Spiel Einhalt zu gebieten suchen, in diesem Sinne aufklärend tätig sind und klar Stellung beziehen. Eine von ihnen gehört dem Friedens- und Konfliktforscher Werner Ruf, von 1982 bis zu seiner Emeritierung im April 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Romanistik an den Universitäten in Freiburg, Paris, Saarbrücken und Tunis war er zwischen 1964 und 1972 als wissenschaftlicher Assistent am Arnold-Bergstraesser-Institut für kulturwissenschaftliche Forschung und als Lehrbeauftragter an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg tätig und hatte 1967 zum Dr. phil. promoviert. Nach Gastprofessuren in den USA und Frankreich wurde er 1974 Professor für Soziologie an der Universität Gesamthochschule Essen.
Auf dem Bremer Kongreß „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ nahm er am 27. April 2013 an einer Arbeitsgruppe zum Thema „NATO als Global Player und das Völkerrecht“ teil und hielt in diesem Rahmen ein Referat zu den „Lehren aus den Kriegen in Afghanistan, Libyen und Syrien“. Dem Schattenblick bot sich die Gelegenheit, mit Prof. Ruf am Rande des Kongresses über diese ebenso aktuellen wie brisanten Fragen zu sprechen und dabei die Rolle der Menschenrechte zu thematisieren.
Schattenblick: Herr Prof. Ruf, Sie haben in Ihrem Vortrag gestern zu dem Thema gesprochen: „Lehren aus den Kriegen in Afghanistan, Libyen und Syrien“. Zu welchen Ergebnissen sind Sie dabei gekommen, und wie lauteten Ihre Kernthesen?
Prof. Dr. Werner Ruf: Zu diesem Thema kann man sehr viel sagen, ich habe mich auf zwei Kernthesen beschränkt. Die erste ist: Wo immer interveniert wurde – und dazu gehören nicht nur Libyen, Syrien und Afghanistan, sondern das fing schon in Somalia und im Irak an -, hinterlassen diese Interventionen zerfallene Staaten. Meine zweite These lautete: Die NATO ist nicht mehr das, was sie einmal war. Die USA haben es immer schwerer, ihre Koalition zusammenzubringen, was meiner Meinung nach daran liegt, daß die USA ihre Führungskraft zunehmend einbüßen und ihre Hegemonialstellung im Schwinden begriffen ist. Dazu gibt es auch das schöne jüngste Buch von Brzezinski [1], der ziemlich genau im Detail begründet, was eigentlich Erosion von Macht bedeutet, nämlich nicht nur militärische Fähigkeiten, sondern eine funktionierende Infrastruktur, ein gutes Schulwesen und so weiter.
SB: Da Sie die USA ansprechen: Wie hat sich das Verhältnis zwischen der EU und den USA entwickelt? Haben sich da Verschiebungen ergeben, die für die Frage nach welthegemonialen Absichten von Belang sind?
WR: Da haben sich insofern Verschiebungen ergeben, als die USA diese Entwicklung immer mit großem Mißtrauen und großer Vorsicht gesehen haben. Und dann wurde auf dem NATO-Gipfel in Lissabon – ich glaube, es ist Ziffer 36 des Beschlußprotokolls – die EU plötzlich als gleichberechtigter Partner aufgeführt. Das ist etwas ganz Neues. Das zeigt natürlich auch, daß die USA nicht mehr in der Lage und nicht mehr willens sind, die absolute Führungsposition zu übernehmen. Wenn man das von der anderen Seite aus sieht, ist das natürlich nicht unbedingt so erfreulich. Denn wenn sich die EU, was sie tatsächlich tut, immer weiter militarisiert und auch als Global Military Player ins Spiel geht, dann ist das nicht das Europa, was man sich vor 60 Jahren einmal vorgestellt hat und wofür das schöne Europa ja wohl auch den Friedensnobelpreis bekommen hat.
SB: In Deutschland ist es inzwischen schon ein wenig salonfähig geworden, die USA zu kritisieren, auch im Zusammenhang mit den Foltervorwürfen von Abu Ghuraib und so weiter, aber wenn es um die EU selber geht, wird schon die Kritik diskreditiert.
WR: Das ist richtig. Ich denke, daß in vielen Köpfen die EU eben immer noch als etwas anderes – als eine Friedensmacht – dasteht. Die EU war nicht von Anfang an das, was die NATO war, und sie hat einen riesigen Vertrauensvorschuß, den sie aber leider, leider, wie ich meine, nicht mehr verdient.
SB: Hier auf dem Kongreß ist sehr viel auch über den humanitär begründeten Interventionismus diskutiert worden – ob überhaupt, unter welchen Umständen, mit engen oder weiteren Voraussetzungen, und so weiter. Wie ist Ihr Standpunkt dazu?
WR: Das Menschenrechtsargument ist ungeheuer wichtig, aber es wird nur noch mißbraucht. Es wird mißbraucht, wenn man intervenieren will. Sehen Sie zum Beispiel in Mali, da hing das Menschenrechtsargument ganz hoch. Die Quelle der Unterstützer dieser salafistischen, jihadistischen Bewegungen, Saudi-Arabien, ist nun wirklich der Prototyp eines Landes, in dem es überhaupt keine Menschenrechte gibt. Das kritisiert niemand, und schon gar nicht denkt man daran, dort zu intervenieren. Nein, man liefert Saudi-Arabien weitere Panzer, um Bürgerrechtsbewegungen wie in Bahrain niederwalzen zu können.
SB: Was würden Sie denn jemandem entgegnen, der Ihnen zwar zugesteht, daß das Menschenrechtsargument mißbraucht werden kann, dann aber damit argumentiert, daß die Möglichkeit oder auch Realität eines solchen Mißbrauchs nicht dazu führen darf, sich jetzt generell nicht mehr in diesem Sinne um die Menschenrechte zu kümmern?
WR: Dann müßte man eben hingehen und überall den gleichen Ansatz in Sachen Menschenrechte anwenden. Nehmen Sie ein anderes Beispiel: Der UN-Sicherheitsrat hat gerade seine rituelle jährliche Resolution zum Westsahara-Konflikt beschlossen. Da gab es großen Druck von Menschenrechtsorganisationen, endlich in das Mandat der MINURSO [2] wie in fast allen anderen UN-Mandaten eine Menschenrechtsklausel einzufügen. Frankreichs Druck hat genügt, daß sogar die USA, die einen Augenblick geschwankt haben, sich hinterher wieder auf die andere Seite geschlagen haben. Dort gibt es nicht einmal eine Klausel, daß die UN-Beobachtergruppe, die MINURSO, die dort präsent ist, auch ein Auge auf die Menschenrechte werfen darf.
Da sieht man sehr klar, wie weit das bestimmten Interessen untergeordnet wird. Menschenrechte bzw. Menschenrechtsverletzungen werden überall dort groß publik gemacht, wo es darum geht, Interessen zu vertreten, und wo das nicht der Fall ist, spielen die Menschenrechte keine Rolle. Das ist eine Politik der „Double Standards“, die im Ausland und gerade auch in den betroffenen Ländern natürlich ungeheuer aufmerksam zur Kenntnis genommen wird und die die Doppelbödigkeit westlicher Politik illustriert.
SB: Der Jugoslawien-Krieg war ja auch ein Dammbruch, da zum ersten Mal unter dem Vorwand „Menschenrechte“ Krieg geführt wurde. [3] Könnten Sie kurz erläutern, was bei der Menge an Fakten natürlich schwierig ist, ob und inwiefern da Menschenrechtsverletzungen und Massakervorwürfe als Vorwände geschürt, unterstützt oder sogar herbeigeführt wurden, um eine Kriegslegitimation zu erwirken?
WR: Ja, das war im Jugoslawien-Krieg der Fall und ist seitdem
geradezu üblich geworden. Denken Sie nur an den berühmt-berüchtigten Hufeisenplan unseres damaligen Verteidigungsministers Scharping – der war so lausig, daß noch nicht einmal die NATO ihn mit der Beißzange angefaßt hat. Aber hier in Deutschland wurde der ganz groß publiziert, um einen alten, traditionellen Serbenhaß zu mobilisieren und natürlich auch, um Krieg zu schüren. Das ist der entscheidende Punkt.
Wenn Sie sich heute die Debatte um die sogenannte „Responsibility to Protect“ [4] anschauen, werden Sie feststellen, daß das genau dasselbe ist. Wenn man sich dann die Mühe macht, auch einmal etwas anderes zu lesen… Das Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) zum Beispiel hat vor zwei Jahren eine große Studie publiziert mit der Quintessenz: Es gibt so viele Probleme in diesem Bereich. Also wenn wir schon RtoP anwenden, dann können wir dieses Prinzip nur selektiv benutzen. Ja, und was heißt da „selektiv“?
SB: Und wer trifft die Entscheidung?
WR: Genau.
SB: Eine Frage noch zum Jugoslawienkrieg und dem Massaker von Srebrenica, dessen noch immer ausstehende historische Aufarbeitung längst unter dem Verdacht bzw. der Bezichtigung der Parteinahme für die inkriminierte Seite steht. Bei der EU gibt es Bestrebungen unter dem Stichwort „Leugnung des Völkermords“, in diesem Zusammenhang bereits kritische Fragen zu kriminalisieren, so daß eine unvoreingenommene Aufarbeitung enorm erschwert wird.
WR: Ja, die Aufarbeitung wird immer schwieriger, wie auch immer das nun im einzelnen gewesen sein mag. Der politische Druck etwa auf Serbien ist jetzt derartig groß mit all dem, was die EU an wirtschaftlicher Macht aufbieten kann, daß Serbien nun daran geht, sich für Srebrenica zu entschuldigen. Ob das nun genauso war oder nicht, spielt dann keine Rolle mehr, da geht es um Politik.
SB: Die frühere Chefanklägerin am Den Haager Jugoslawien-Tribunal, Carla del Ponte, hat sich in einem gewissen Rahmen darum bemüht, auch den von der serbischen Seite erhobenen Vorwürfen nachzugehen und dementsprechende Untersuchungen einzuleiten. Danach ist sie dann bald wegbefördert worden, sie wurde Botschafterin der Schweiz im fernen Argentinien. Wissen Sie Näheres über die Hintergründe?
WR: Da kann ich im Detail nicht viel zu sagen. Ich könnte höchstens einen anderen Fall nennen, der zeigt, wie so etwas aufgezäumt wird, nämlich die Verfolgung Muammar el Ghaddafis durch den Internationalen Strafgerichtshof. Damals hatte der Sender Al-Dschasira die Ente lanciert, daß Ghaddafi seine Truppen mit Potenzmitteln angefüttert habe, damit sie Massenvergewaltigungen begehen. Das ist schon insofern unsinnig, weil man, wenn man die Bevölkerung zurückgewinnen will, so etwas nicht macht. Es hat sich auch schnell herausgestellt, daß das eine Ente war, aber Moreno Ocampo [6] war sich nicht zu schade, diesen Vorwurf als Begründung für einen Haftbefehl zu nehmen und in ihn hineinzuschreiben, daß Ghaddafi irgendwelche Potenzmittel ausgeteilt habe. So werden aus Zwecklügen plötzlich Wahrheiten gemacht. Meiner Meinung nach ist der Internationale Strafgerichtshof eine großartige humanitäre Errungenschaft, aber es kann ja wohl nicht sein, daß bisher nur Afrikaner vor diesem Strafgerichtshof angeklagt worden sind! Da zeigt sich wieder diese Doppelbödigkeit – es gibt eben bei den Weißen keine Kriegsverbrecher!
SB: Der Kongreß hier – „Quo vadis NATO?“ – steht auch unter der Frage der demokratischen Kontrolle gegenüber Militarisierung und Kriegführung. Was halten Sie von der Idee oder den Bestrebungen, mit rechtlichen Mitteln dem kriegerischen Treiben Einhalt gebieten zu wollen?
WR: Also ich muß sagen, daß ich in den letzten Jahren immer mehr die Position vertreten habe, daß das Recht eigentlich die letzte zivilisatorische Haltelinie ist, die wir haben. Recht impliziert immer Rechtsgleichheit. Das heißt, genau da müßte man versuchen, die NATO oder auch die EU zu packen und zu sagen: „Bitte schön, wenn schon Recht, dann Rechtsgleichheit.“ Dazu, denke ich, kann man das Recht tatsächlich nutzen, um Bremsen und Kontrollmöglichkeiten einzubauen, um der Wahrheitsfindung etwas näher zu kommen und damit nicht nur zu erreichen, daß Rechtsbrüche wie Guantánamo, Abu Ghuraib, Bagram oder wie sie alle heißen, nicht am laufenden Meter passieren, sondern daß auch die Begründung von Kriegen, die sich an den Menschenrechten aufhängen, aufgebrochen wird.
SB: Herr Ruf, vielen Dank für dieses Gespräch.
Fußnoten:
[1] Gemeint ist das 2012 erschienene Buch „Strategic Vision – America and the crisis of global power“ des US-amerikanischen Geostrategen und früheren sicherheitspolitischen Beraters von Präsident James Carter, Zbigniew Brzezinski, der noch heute als in Washington einflußreich gilt.
Siehe dazu in der Kongreßberichterstattung des Schattenblick unter
INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/152: Quo vadis NATO? – Wandel der Feindschaften? (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0152.html
INTERVIEW/174: Quo vadis NATO? – Hegemonialmißbrauch, Hauke Ritz im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0174.html
[2] MINURSO ist die UN-Friedensmission in der von Marokko besetzten Westsahara. Der Name dieser am 29. April 1991 auf der Basis der UN-Resolution 690 ins Leben gerufenen und seitdem durch weitere Resolutionen verlängerten Mission bedeutet in der französischen Originalfassung von Resolution 690 „Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental“ (Mission der Vereinten Nationen für die Organisation eines Referendums in der Westsahara). Dieses Mandat umfaßt die Überwachung des seinerzeit geschlossenen Waffenstillstands sowie die Durchführung eines Referendums, in dem die sahaurische Bevölkerung zwischen der Integration in den Staat Marokko und der eigenen staatlichen Unabhängigkeit wählen kann. Im deutschen Sprachgebrauch haben sich Übersetzungen wie „Mission zur Überwachung des Referendums über die Unabhängigkeit“ oder auch „Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in Westsahara“ durchgesetzt, aus denen wie auch aus der englischen Originalfassung der zugrundeliegenden Resolution 690 nicht unbedingt eindeutig hervorgeht, daß die Vereinten Nationen 1991 die Aufgabe, ein solches Referendum durchzuführen, übernommen haben. Seit über 20 Jahren ist die UN bzw. die in ihr dominierenden Staatengruppe offenbar nicht in der Lage oder nicht willens, ein solches Referendum gegen den Widerstand Marokkos durchzusetzen.
[3] Siehe zum Thema „Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens“ die gleichnamige Serie im Schattenblick unter
INFOPOOL → GEISTESWISSENSCHAFTEN → MEINUNGEN:
http://schattenblick.de/infopool/geist/ip_geist_meinung_dilja.shtml
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de