Neue geostrategische Konzepte der USA und der NATO
Rapport Plenum V.
„Neue geostrategische Konzepte der USA und der NATO“ am 27.04.13
Moderation: Prof. Dr. Lothar Brock (Uni Frankfurt/Main; VDW)
Rapporteurin: Julia Pippig (VDW)
Redner:
Dr. med. Lars Pohlmeier (IPPNW): „Neueste Entwicklungen der NATO-Strategie“
Dr. Hauke Ritz (Philosoph): „Ende der US-Dominanz? – Neueste Debatten in den außenpolitischen Debatten der USA am Beispiel Zbigniew Brzezinskis“
Prof. Dr. Martin Kutscha (Hochschule f. Wirtschaft & Recht, Berlin): „NATO-Strategie und das Recht“
Prof. Dr. Lothar Brock führte zu Beginn des Plenums zum Thema „Neue geostrategische Konzepte der USA und der NATO“ aus, dass aufgrund des Missbrauchs durch die Nationalsozialisten die Geopolitik im deutschen Raum lange Zeit tabuisiert wurde. In anderen Ländern hingegen konnte sich eine kritische Auseinandersetzung mit geopolitischer Theorie und Praxis eher etablieren. Im allgemeinsten Sinne kann man unter Geopolitik die politikwissenschaftliche Interpretation geographischer Begebenheiten verstehen, in Bezug auf militärstrategische Überlegungen spricht man auch von Geostrategie.
Die „klassische“ Form des geopolitischen Denkens wurde allerdings mit der Einführung der Atomwaffen zum Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch obsolet. Die atomare Bewaffnung der Länder bedeute im Kern eine A u f h e b u n g jeglichen geostrategischen Denkens, da die Zerstörungskraft atomarer Waffen geographische Grenzen spreng und als militärische Waffe mit g l o b a l e r Wirkungskraft angesehen werden müsse.
Daran anknüpfend konzentrierte sich Dr. med. Lars Pohlmeier als erster Redner auf die Bedeutung der Atomwaffen im Rahmen geopolitischen Denkens und insbesondere bezogen auf die NATO-Strategien. Er stellte fest, dass es sich bei dem Einsatz von Atomwaffen zuallererst um ein h u m a n i t ä r e s Anliegen handele, nämlich um das Überleben sehr vieler Menschen.
Trotz der Inhumanität und Grausamkeit der Atomwaffen, die über 50 Jahre nach ihrem ersten Einsatz noch viel schlagkräftiger geworden sind, gibt es leider keine ernstzunehmenden Abrüstungsbestrebungen der Atomwaffenstaaten. Stattdessen arbeiten insbesondere die USA derzeit an der „Modernisierung“ ihrer Atomwaffen, die technische Erweiterungen der Einsatzmöglichkeiten miteinschließen würde, so dass es sich de facto um eine Effektivierung dieser Waffensysteme handele. Im Einklang mit der Nuklear-Strategie der NATO lagern auch heute noch zahlreiche Atomwaffen auf europäischem und sogar deutschem Boden. US-Atomwaffen sind in Belgien, Deutschland, den Niederlanden, der Türkei und derzeit noch in Italien stationiert – in Ländern, die offiziell als Nicht-Atomwaffenstaaten gelten und dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten sind. Die NATO, die laut eigener Aussage eine atomwaffenfreie Welt anstrebt, stellt zugleich in einem ihrer Strategiepapiere fest: „But as long as there are nuclear weapons in the world, NATO will remain a nuclear power alliance“.
Dr. Pohlmeier fasste zusammen, dass der Glaube an die Sinnhaftigkeit zu atomarer Verteidigung einer Pseudo-Religion gleiche. Es bestehe fast eine Art krankhafte Abhängigkeit innerhalb der NATO, wie leider auch bei den anderen Atomwaffenstaaten. So gleiche die NATO einem schwer alkoholkranken Patienten, der anderen – selbst im Vollrausch – das Trinken verbieten wolle. Das könne natürlich nicht funktionieren. Die bisherige und anscheinend auch zukünftige Strategie der NATO leiste der atomaren Bewaffnung weiterer Länder Vorschub, statt diese zu verhindern, und hintertreibe so – entgegen selbst proklamierter Werte – jegliche ernsthafte Abrüstungsbemühungen. Die NATO müsse sich ernsthaft fragen, ob sie nicht nach außen mit ihrer zutiefst unmoralischen und inakzeptablen atomaren Militär-Doktrin genau diejenigen demokratischen Freiheitswerte beleidige, die sie zu schützen vorgebe.
Dr. Hauke Ritz beschäftigte sich in seinem Vortrag eingehend mit der Geopolitik als Wissenschaft und deren Einfluss auf nationale Außenpolitik, indem er eine beispielhafte Analyse des geopolitischen Denkens Zbigniew Brzezinskis vornahm. Brzezinski ist Politikwissenschaftler und diente u.a. Ende der 1970er Jahre als Sicherheitsberater unter Jimmy Carter; noch heute gilt er als einer der „großen“ US-Strategen. Als Anhänger geostrategischen Denkens haben die Lage der Kontinente, Gebirgsketten und Meeresengen für Brzezinski strategische und somit auch (sicherheits-)politische Bedeutung.
Während und auch nach Ende des Kalten Kriegs propagierte Brzezinski eine Eindämmung bzw. Schwächung der UdSSR bzw. Russlands, um zugleich die Einflusssphäre der USA systematisch auszuweiten. Mitte der 1990er Jahre veröffentliche er eine Studie über die Geographie der unipolaren Welt (mit der USA als Weltmacht), in der er die herausragende Bedeutung der Kontinente analysierte und zu dem Schluss kam, dass die USA ihre Vormachtstellung insbesondere gegenüber Eurasien strategisch aufbauen und verteidigen müsse. Europa sollte hierfür als „Brückenkopf“ nach Asien dienen, und eine NATO-Osterweiterung über die Ukraine und Georgien sollte die geostrategische Position der USA ausbauen. Hinter Brzezinskis Strategie stand der Gedanke, dass die USA ihren 1989 erworbenen Machtvorsprung nutzen sollten, eine Weltordnung zu begründen, die aufgrund ihrer globalen Ausrichtung so stark sein würde, dass selbst ein irgendwann eintretender geopolitischer Machtverlust der USA deren globale Vormachtstellung nicht mehr maßgeblich würde schaden können.
2012 erkannte Brzezinski jedoch, dass die Strategie der unipolaren Weltordnung gescheitert war, was ihn zu einer gravierenden Kehrtwende gegenüber seiner bisherigen Theorien veranlasste. Während er bisher auf eine imperiale Integration Russlands gesetzt hatte, riet er der USA nun zur Versöhnung, indem Russland als Bündnispartner gewonnen werden solle. Die Ursachen für Brzezinskis strategische Kehrtwende stützten sich auf drei Feststellungen seinerseits: (1) die Ausbildung von „Gegen-Identitäten“ in weiten Teilen der Welt gegenüber den westlichen Politik und Kultur; (2) eine zunehmende politische Erstarrung des Westens, die abschreckende Wirkung auf andere Länder und Kulturen hätten; (3) all diese Entwicklungen zusammengenommen bedrohten den Westen als dominantes Staaten- und Kulturbündnis. Er befürchtet sogar, dass „Amerika […] die gleiche Art von systematischer Lähmung erleben [könnte], mit der die Sowjetunion in den 80er Jahren konfrontiert war“ (Brzezinksis Rede vor dem „Center of Strategic and International Studies, 9.2.2012).
Dr. Ritz fasste zusammen, dass Brzezinskis (späte) Kehrwende von imperialer Vormachtstellung hin zu kooperativer Einbindung zwar begrüßenswert sei. Allerdings zeige die Analyse seiner Texte deutlich auf, wie unzuverlässige die Geopolitik als Wissenschaft insgesamt sei, da immerhin einer der einflussreichsten Geostrategen unserer Zeit zu solch einer dramatischen Revision seiner Gedanken gezwungen war. Zudem stelle die politische Deutung von Landkarten in vielen Fällen ein Einfallstor für Ideologien dar, die oft unbemerkt in die Interpretation der Geographie eingingen. Es sei daher dringend notwendig, geopolitische Analysen öffentlich zu machen und deren Prämissen im öffentlichen Diskurs zu entzaubern und kritisch zu hinterfragen.
Prof. Dr. Martin Kutscha behandelte als letzter Redner in diesem Plenum die NATO und deren Strategien im Hinblick auf völker- und verfassungsrechtliche Aspekte. Ursprünglich wurde die NATO als klassisches Verteidigungsbündnis gegen den Warschauer Pakt entworfen, wofür Art. 5 des NATO-Vertrags Ausdruck ist (dieser definiert den Bündnisfall für den Fall, dass ein NATO-Staat einem bewaffneten Angriff von außen ausgesetzt ist).
Das ursprüngliche Konzept der NATO wurde jedoch mit dem neuen strategischen Konzept ausgeweitet, was auch zu einer drastischen Erweiterung des Aufgabenkatalogs führte, mit deutlichen politischen Absichten dahinter. Die Kernpunkte des neuen strategischen Konzepts beinhalten: (1) die Erweiterung der Kernfunktionen von Verteidigungs- zu Krisenbewältigung (sprich: von territorialer zu interessengeleiteter Verteidigung); (2) die Möglichkeit militärischer Einsätze auch ohne UNO-Mandat; zwar solle sich das NATO-Bündnis um ein solches Mandat bemühen, aber es könne auch ohne dieses interveniert werden falls dies für nötig erachtet würde; (3) die Option einen nuklearen Erst-Einsatzes.
Eine völkerrechtliche Beurteilung dieser neuen Aufgaben macht jedoch deutlich, dass Krisenbewältigung anders bewertet werden muss als Selbstverteidigung. Das Intervenieren von Staaten in Krisenfällen ist nicht mehr durch Art. 5 oder Art. 51 (Selbstverteidigung, UNO-Charter) gedeckt. Daher müsste die Möglichkeit zur Intervention in jedem Einzelfall eingehend geprüft werden, und zwar dahingehend ob der materielle Tatbestand für eine Intervention erfüllt wird. Die einzigen Ausnahmen zum Friedensgebot stellen entweder der Fall der Selbstverteidigung dar, oder wenn ein Eingreifen auf Grundlage eines Mandats des UNO-Sicherheitsrats legitimiert wird. Das Friedensgebot wurde aber in den vergangenen Jahren auch durch Rechtsprechungen zunehmend aufgeweicht. Tatsache ist, dass der Nationalstaat kein Staats-Notwehrrecht innehat, da er kein Bürger ist – in diesem Moment würde der Verfassungsbruch legitimiert werden.
Auch die Praxis der „humanitären Intervention“ ist eine Erfindung, um ökonomische oder andere Staatsinteressen mit Menschenrechtsschutz-Argumentationen zu legitimieren. Aber wo genau endet die „Wahrung des Friedens“ und wo beginnt eine Militärpolitik von NATO-Mitgliedern, deren Ziel stattdessen in der Durchsetzung von politischen und ökonomischen Interessen weltweit besteht? Die deutsche Rechtsprechung hat mit dem „out of area“-Urteil indirekt eine Umschiffung dessen ermöglicht, dass verfassungsrechtlich deutsche Streitkräfte ausschließlich zur Verteidigung einsetzbar sind. Dies ist möglich, weil die Bundesrepublik sich als Mitglied in einem übergeordneten kollektiven Sicherheitsbündnis, der NATO, den Regeln dieser kollektiven Sicherheit unterordnet. Im Jahr 2001 kurz nach den Terroranschlägen in den USA, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass eine bloße Fortentwicklung des NATO-Systems, die keine Vertragsänderung darstelle, keine gesonderte Zustimmung des Bundestags erfordere.
Verfassungsrechtlich ist es der Bundesrepublik untersagt, einen System anzugehören, das n i c h t der Friedenssicherung dient. Der Lübecker Politikwissenschaftler Robert van Ooyen stellt zusammenfassend fest, dass die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu einer stückweisen „Flexibilisierung“ der Verfassungsgrenzen geführt habe, so dass nun Bundeswehr-Einsätze mit einfacher Parlamentszustimmung möglich sind. Grundlage hierfür ist ein neues „globalisiertes“ Verständnis von Sicherheit. Diese Entwicklungen sollten, so Prof. Kutscha, jedoch kein Anlass zur Resignation sein, sondern im Gegenteil Ansporn, mit der Aufklärung „im Lichte des Verfassungsrechts“ nicht nachzulassen.
In der anschließenden Diskussion befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einerseits mit dem erheblichen Einfluss einzelner Experten wie Brzezinski auf nationale Außenpolitiken, andererseits mit der schmalen Gratwanderung nationaler Rechtsprechung zwischen Wahrung der nationalen Verfassungen und gleichzeitiger Gefahr, den Regierungen mit Rechtsprechungen nicht „in den Rücken“ fallen zu wollen. Herr Böttcher, ehem. Richter in Lübeck und Mitglied der IALANA, stellte fast, dass die Juristenausbildung, -auswahl und –einstellung in höhere Richterämter eine entscheidende Rolle spiele und verglich die Arbeit der Verfassungsrichter mit dem „ganz mühsamen Bohren sehr harter Bretter“.
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de