Hegemonialmißbrauch
INTERVIEW/174: Quo vadis NATO? – Hegemonialmißbrauch, Hauke Ritz im Gespräch (SB)
„Es ist der letztlich ökonomisch bedingte Zustand der Instabilität, der die gegenwärtige militärische Lage in der Welt so gefährlich macht.“
Neue Geostrategische Konzepte der USA und der NATO – Themenblock auf dem Kongreß „Quo vadis NATO?“
Interview mit dem Referenten Hauke Ritz am 28. April 2013 in Bremen
Bei der NATO handelt es sich dem eigenen Gründungsmythos zufolge um ein militärisches Verteidigungsbündnis, dessen Mitgliedstaaten, gemessen an den jährlichen Rüstungsausgaben, knapp drei Viertel der weltweiten Militäranstrengungen tätigen. Unbestritten dürfte auch sein, daß die USA innerhalb der NATO eine zumindest in militärischer Hinsicht unanfechtbare Hegemonialstellung einnehmen. Sie unterhalten rund 700 Militärstützpunkte in über 140 Staaten der Welt und leisten sich einen 700 Milliarden US-Dollar schweren Militärhaushalt, der die militärischen Aufwendungen zur Zeit des sogenannten Kalten Krieges, wie die Block- bzw. Systemauseinandersetzung vor dem Ende der Sowjetunion genannt wurde, weit übersteigt. Ist diese weltweit agierende Militärmaschinerie die Speerspitze eines westlichen Imperialismus, der rigoroser denn je eine globale Privilegienordnung sichert und durchsetzt zu Lasten der Lebensinteressen vieler Millionen Menschen oder eine segensbringende Schutzmacht, die bar jeglicher Raubabsichten und Eigeninteressen für Frieden, Sicherheit und Demokratie eintritt?
Um der Frage, die Titel und Zentralthema des Bremer Kongresses „Quo vadis NATO? – Herausforderungen für Demokratie und Recht“ vom 26. bis 28. April 2013 gewesen ist, in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit nachspüren zu können, scheint es unverzichtbar zu sein, in einem freien Analogschluß zum Prinzip „Cui bono?“ – also der in Kriminalistik und Strafrecht relevanten Frage nach dem Nutzen bzw. den Nutznießenden einer Handlung – zu erörtern, zu welchem Zweck ein so immenser militärischer Aufwand seitens der NATO bzw. der USA betrieben wird. Wohl aus diesem Grunde haben die Kongreß-Verantwortlichen dem Thema „Neue Geostrategische Konzepte der USA und der NATO“ einen eigenen Block gewidmet, in dem der Geschichtsphilosoph und Publizist Hauke Ritz ein Impulsreferat zu der aktuellen Frage hielt: „Ende der US-Dominanz? – Neueste Debatten in den außenpolitischen Eliten der USA am Beispiel Zbigniew Brzezinskis“.
Es mag dahingestellt bleiben, ob der Einfluß eines „Kalten Kriegers“ wie Brzezinski auf die gegenwärtige Entwicklung der US-Außen- und Militärpolitik und damit auch der NATO tatsächlich so groß ist, wie häufig angenommen wird. Fraglos gehört es zu den Verdiensten engagierter Publizisten wie Ritz, zur Aufklärung über die Geostrategie als einer Eliten-Disziplin beigetragen zu haben, in der Kriege und Militärinterventionen geplant, strategisch vorbereitet und begleitet werden. In einem am Rande des Kongresses mit dem Schattenblick geführten Gespräch machte der Referent beunruhigende Aussagen zu den aktuellen Krisenherden und sprach von der realen Gefahr eines weiteren Weltkrieges.
Schattenblick: Herr Ritz, Sie haben hier auf dem Kongreß über geostrategische Fragen gesprochen. Können Ihrer Meinung nach die aktuellen Kriege bzw. Krisen in Syrien und im Iran mit dieser Thematik in Verbindung gebracht werden?
Hauke Ritz: Ja, selbstverständlich. Bedauerlicherweise hängt das alles mit geostrategischen Interessen zusammen. Im Iran handelt es sich zur Zeit noch um Kriegsdrohungen, die allerdings ein gefährliches Klima erzeugen. Die Amerikaner betrachten ihren eigenen geostrategischen Standort zwischen Atlantik und Pazifik als eine Art Insellage und sehen den eurasischen Kontinent als ein Schachbrett an, das sie dominieren müssen, weil sich in dieser Region die größten Rohstoffvorkommen der Welt befinden und zudem noch der größte Teil der Weltbevölkerung lebt, nämlich 4,6 Milliarden Menschen. Auch die nächsten Konkurrenten, vor allem Rußland und China, sind hier beheimatet. Die USA wollen diesen Kontinent einer möglichst weitreichenden geopolitischen Kontrolle unterwerfen. Dazu haben sie in den letzten 20 Jahren zwei Hebel zum Einsatz gebracht.
Der eine war eine Kombination aus EU- und NATO-Erweiterung, die 2008 im Zuge der Georgienkrise allerdings zum Erliegen gekommen ist. Sie sollte ursprünglich auch die Ukraine und Georgien umfassen, was Gott sei Dank nicht geklappt hat. Auf der anderen Seite gab es Versuche, den Nahen Osten neu zu ordnen. Als die Sowjetunion zerfallen ist, gab es immer noch einige Länder in dieser Region, die sich nach Osten hin orientiert hatten, wie zum Beispiel Libyen, Syrien, nach 1991 der Irak und teilweise der Iran, der lange Zeit sogar gegenüber beiden Blöcken seine Neutralität bewahrt hatte. Die USA entwickelten dann im Laufe der Zeit den Plan, diese souveränen Staaten in abhängige Staaten zu verwandeln. Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber und US-General Wesley Clark hatte in einem mit Amy Goodman am 2. März 2007 in der Sendung „Democracy now“ geführten Interview erklärt, daß die Bush-Administration bereits wenige Wochen nach 9/11 den US-Generalstab angewiesen habe, in fünf Jahren sieben Staaten anzugreifen, nämlich den Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und am Ende den Iran.
Wenn man sich heute diese Liste ansieht, stellt man fest, daß in fast jedem dieser Länder inzwischen etwas passiert ist. Afghanistan wurde besetzt, der Irak ist weitgehend zerstört und massiv geschwächt worden, Syrien befindet sich in einer Art Stellvertreterkrieg, Libyen wurde bombardiert und der Sudan geteilt. Auch der Libanon hat 2006 einen Krieg mit Israel erlebt. All diese Staaten haben mittlerweile ein gewaltsames militärisches oder zumindest, wie der Sudan, politisches Schicksal erfahren. Der Prozeß, den Nahen Osten neu zu ordnen, wurde zwar unter der Bush-Regierung vorangetrieben, ist aber von Obama letztlich weitergeführt worden. In der US-amerikanischen Außenpolitik hat es zwischen Bush und der ersten Amtszeit Obamas zwar einen Wechsel im Stil und in der Rhetorik, aber keinen fundamentalen Politikwechsel gegeben. Es bleibt abzuwarten, was nun die zweite Amtszeit bringen wird.
SB: Sie haben in Ihrer Arbeit die Prämissen der sogenannten Geopolitik grundsätzlich in Frage gestellt. Zu welchen Ergebnissen und Schlußfolgerungen sind Sie dabei gekommen?
HR: Die geopolitischen Überlegungen klingen im ersten Moment sehr logisch, weil sie sich meistens auf faktische geographische Gegebenheiten wie Meeresengen, Landschaften und Gebirgsketten oder die Lage der Kontinente und Länder beziehen. Aber es handelt sich dabei teilweise dann doch um eine Scheinlogik, ganz ähnlich, wie man das bei so manchen Wirtschaftstheorien kennt, die auch logisch klingen, aber dann dem Test der Realität nicht standhalten. Manchmal muß man sich einfach ein bißchen zurücklehnen und bei bestimmten geopolitischen Konzepten fragen: Ist das denn wirklich so? Es gibt zum Beispiel die Theorie, daß Zentralasien, also die Region, die zwischen dem Kaukasus und der Westgrenze Chinas liegt und zu der Länder wie Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien, Kasachstan und Afghanistan gehören, eine Art Machtmultiplikator darstellen würde. Das hieße, daß eine Macht, die in dieser Region eine militärische Präsenz hätte und sie auch wirtschaftlich dominieren würde, den gesamten eurasischen Kontinent politisch ordnen könnte. Da muß man sich doch fragen: Ist das wirklich so?
Zwar gibt es diese Theorie seit etwas mehr als 100 Jahren, seit der britische Geograph Halford Mackinder [1] sie erdacht hat. Später wurde sie von Zbigniew Brzezinski [2] wieder aufgegriffen, sie hat nachweislich Einfluß auf die jüngere amerikanische Außenpolitik gehabt. Aber es ist überhaupt nicht erwiesen, daß sie stimmt. In der Vergangenheit gab es immer wieder Staaten, die diese Region kontrolliert haben, wie zuletzt die Sowjetunion, die eine Zeitlang sogar über einen massiven Einfluß in Afghanistan verfügt und damit die Region fast vollständig in Besitz genommen hatte. Trotzdem war sie damals nicht in der Lage gewesen, von dort aus ihre Macht auf den gesamten eurasischen Kontinent auszudehnen, und ähnliches ließe sich auch von vergangenen Weltmächten in dieser Region wie dem Persischen Reich oder den Mongolen sagen. Die Theorie ist vielleicht ein Mythos, eine akademische Kopfgeburt, die ein gewisses Eigenleben führt und die Außenpolitik einiger Staaten bestimmt, aber deren Realitätsgehalt letztlich in Frage gestellt werden muß. Leider kann das in den Thinktanks, wo sich diese Theorien einer großen Beliebtheit erfreuen, gar nicht kritisch diskutiert werden, weil viele der dort tätigen Wissenschaftler im geopolitischen Denken ausgebildet worden sind. Sie können schwerlich eine Wissenschaft hinterfragen, die den Kern ihrer Bildung darstellt.
SB: Wenn Sie einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der NATO bzw. der weltweit geführten Kriege wagen wollten, wie sähe der aus?
HR: Wir sind in einer sehr schwierigen Situation, in der sich sozusagen zwei Seiten identifizieren lassen. Auf der einen Seite gibt es die USA und die von ihr mehr oder weniger abhängigen oder eng mit ihr verbündeten Staaten wie die westeuropäischen Staaten, Japan und Südkorea. Auf der anderen Seite sind es Länder wie Rußland, China, Iran, Venezuela und Syrien, die alle für sich in Anspruch nehmen, souveräne Staaten zu sein, und es in gewisser Weise auch tatsächlich sind. Für beide Seiten geht es im Grunde ums Überleben. Eine müßte sich im jetzt angebrochenen Moment der Geschichte ändern, aber keine will es.
Der Bruchpunkt, um den es dabei geht, ist die ökonomische Struktur der USA. Die amerikanische Ökonomie ist im höchsten Grade abhängig von der Finanzwirtschaft, die bis zu 30 bis 40 Prozent – je nachdem, welche Zahlen man dazu findet – des gesamten Bruttosozialprodukts ausmacht. Hinzu kommt eine sehr große Waffenindustrie, die auch vom Finanzsektor lebt, und dann gibt es in den USA noch sehr viele weitere Dienstleistungsindustriezweige. Von einer industriellen Basis, die eine reale Wertschöpfung betreibt, ist nicht mehr viel vorhanden, da das meiste nach China oder in andere Schwellenländer ausgelagert worden ist. Das hat zur Folge, daß die gesamte US-Wirtschaft von der Fähigkeit der USA abhängt, die Rolle des Dollars als Weltwährung aufrechtzuerhalten. Solange der Dollar die Weltwährung ist, können die USA Kredit schöpfen, Geld in Umlauf bringen und diese Luftwirtschaft, wie man die Finanzwirtschaft auch nennen könnte, am Laufen halten und damit auch die Dienstleistungs- und Waffenindustrie.
Die Rolle des Dollars als Weltwährung hängt wiederum von einer zumindest indirekten Kontrolle der Erdölförderung ab. Dadurch, daß die USA im Nahen Osten militärisch präsent sind und so viel Einfluß entfalten können, daß bestimmte Länder Angst vor ihnen haben, stellen sie sicher, daß Öl in Dollar verkauft wird, was wiederum eine Leitfunktion für alle übrigen Rohstoffe wie Eisen, Kupfer und so weiter hat. Solange Rohstoffe in Dollar gehandelt werden, bleibt der der Dollar Weltwährung. Für die USA besteht nun das Interesse, diesen Zustand möglichst lange in die Zukunft auszudehnen, und das versuchen sie, mit einer militärischen Expansion sicherzustellen. Für die anderen Länder, die ich bereits erwähnt habe, Rußland, China und Iran, bedeutet diese Expansion eine Bedrohung ihrer Existenz als souveräne Staaten. Die militärische Umklammerung kommt in dem Raketenschild, in dem Projekt, den erdnahen Weltraum zu bewaffnen und in neuen Kriegstechniken wie dem Einsatz von Drohnen zum Ausdruck und überhaupt in einer veränderten Kriegführung, wie wir sie in gezielten Tötungen und im Informationskrieg sehen. Moderne Kriege werden heute mit einer viel stärkeren Medienbeeinflussung betrieben, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Wenn man all das betrachtet, kann man schon verstehen, daß Staaten wie China, Rußland und Iran das Gefühl haben, in eine Art militärische Umklammerung geraten zu sein. Sie sehen sich vor die Wahl gestellt, sich dieser Umklammerung zu ergeben und quasi in die amerikanische Welt einzutreten. Sie müßten zumindest zum Teil ihre Souveränität abgeben und Prozesse der Rechtsangleichung vornehmen. Dies bedeutet, daß sie sich in einem ähnlich starken Maße, wie Deutschland und andere westeuropäische Staaten das bereits getan haben, verwestlichen müßten. Aber das wäre für Länder wie Iran und China, die seit über 2500 Jahren selbständige Staaten sind, natürlich ein ganz großer Einschnitt. Oder aber diese Länder verteidigen ihre Souveränität und riskieren dabei einen Angriff. So macht der Iran jetzt schon seit vielen Jahren deutlich, daß er gewillt ist, sich zu verteidigen.
Ich komme noch einmal darauf zurück, was ich vorhin gesagt habe, nämlich daß eine der beiden Seiten von ihrer Position abrücken muß. Entweder schaffen es die Amerikaner zu akzeptieren, daß der Dollar seinen Status als Weltwährung verlieren wird und sie durch eine Phase der wirtschaftlichen Instabilität gehen müssen wie einst die Sowjetunion nach 1991, daß sie also einer Abwicklung ihres Imperiums mit all den darauffolgenden, wirtschaftlich harten Zeiten entgegensehen und zu einem neuen Verständnis ihrer Staatlichkeit und ihrer Rolle in der Welt gelangen müssen. Oder aber, wenn sie das nicht wollen, dann müßten sie diejenigen Staaten, die heute noch unabhängig von ihnen sind, bekriegen, womit diese wiederum vor der Wahl stehen, sich zu ergeben. Das ist eine sehr brisante Situation. Es ist dieser letztlich ökonomisch bedingte Zustand der Instabilität, der die gegenwärtige militärische Lage in der Welt so gefährlich macht.
SB: In geostrategische Fragestellungen spielt auch das Verhältnis zwischen den USA und der EU, das man vielleicht als „Freund-Feindschaft“ definieren könnte, hinein. Hat es da Ihrer Einschätzung nach in der jüngsten Vergangenheit Veränderungen gegeben, und welche Rolle spielen dabei die Beziehungen Deutschlands zur EU wie auch zu den USA?
HR: Aus der Perspektive der meisten europäischen Regierungen gibt es eine enge transatlantische Beziehung, die auch als Freundschaft bezeichnet wird. Europa hat allerdings ganz andere historische Erfahrungen als die USA. Die USA haben, abgesehen von dem Bürgerkrieg in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, nie einen Krieg auf ihrem Boden erlebt. Europa hat dies in einem ungeheuren Ausmaß durchlebt, angefangen beim Dreißigjährigen Krieg, bei dem etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung gestorben ist, bis zu den Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts, die ganze Generationen traumatisiert haben. Vor diesem historischen Hintergrund müßten europäische Politiker angesichts der militärischen Instabilität der heutigen Welt eigentlich hochalarmiert sein. Es ist mit unserer historischen Erfahrung schlichtweg nicht zu vereinbaren, das zu akzeptieren.
Daß diese Situation trotzdem heute von vielen europäischen Politikern hingenommen wird und die gegenwärtige Regierung Merkel sogar damit einverstanden ist, daß die Kommandozentrale für das Raketenschild in Deutschland stationiert wird, spricht von einer gewissen Geschichtsvergessenheit, die hier in Europa um sich gegriffen hat. Dabei besitzen wir eigentlich aufgrund unserer Geschichte das Potential, in den internationalen Beziehungen eine viel differenziertere und grundlegend andere Haltung einzunehmen, als wir es in den letzten Jahren getan haben. Wir sollten die Expansionsbestrebungen der USA aufgrund unserer geschichtlichen Erfahrung viel kritischer betrachten.
SB: Unter Geostrategen gibt es schon seit vielen Jahren die Annahme, es könnte einen weiteren Weltkrieg geben, der vom Umfang der möglichen Opfer her gesehen noch verheerender werden könnte als der Zweite und dessen geographischer Schwerpunkt weiter in den asiatischen Raum hinein vermutet wird. Halten Sie das für plausibel und gibt es Ihrer Einschätzung nach bereits erste Anzeichen für ein solches Szenario?
HR: Ja, die sehe ich auf jeden Fall. Da gibt es einen interessanten Aufsatz des in den USA lebenden britischen Historikers Niall Ferguson, der als Neokonservativer gilt. Er hat 2006 in den „Foreign Affairs“ den Aufsatz „The next war of the world“ (Der nächste Weltkrieg) [3] veröffentlicht. Darin beschreibt er das Gebiet in Zentralasien, über das wir eben gesprochen haben, und einige Teile des Nahen Ostens als die wahrscheinlichste Region, in der es durch sogenannte Stellvertreterkriege – wie früher auf dem europäischen Balkan – zu einem universalen, länderübergreifenden Bürgerkrieg kommen könnte. Und da in dieser Region sehr, sehr viele Menschen leben – hunderte Millionen -, wären die Opferzahlen in einem derartigen Fall horrend.
Ich habe bereits 2008 in einem Aufsatz [4] darauf hingewiesen, daß dies der mögliche Ort einer Konfrontation des Westens mit den aufsteigenden Schwellenländern, insbesondere mit China und Rußland, sein könnte. In den letzten zwei Jahren sehe ich mich dadurch alarmiert, daß man in dem Stellvertreterkrieg, der gerade in Syrien stattfindet, ein Vorzeichen dieser Entwicklung sehen kann. Man muß sich nur einmal vorstellen, daß dieser Konflikt von Syrien aus auf die Nachbarländer, die ebenfalls eine ethnisch und religiös gemischte Bevölkerung haben, übergreift! Der Libanon steht bereits unter massiven Spannungen, im Irak gibt es erste Anzeichen einer zunehmenden militärischen Konfrontation zwischen den einzelnen Volksgruppen. Saudi-Arabien versucht, so etwas wie einen sunnitischen Block im Nahen Osten zu gründen und ist daran beteiligt, Dschihad-Kämpfer mit Waffen und Geld auszurüsten und nach Syrien zu schicken. Katar unterstützt Saudi-Arabien dabei. Denn in dem kleinen Land liegen gewaltige Gasvorräte und der Emir Katars erhofft sich, durch die Unterstützung der saudischen Politik seine eigenen Pipelineprojekte besser verwirklichen zu können. Im Nahen Osten ist ein großer Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten durchaus in den Horizont des Möglichen gerückt.
Sollte es aber dazu kommen, wäre diese Konfrontation von einzelnen Mächten der Region – ich denke da vor allem an Saudi-Arabien, Katar und in gewisser Weise auch an die Türkei – erzeugt worden, aber auch von westlichen Staaten. Frankreich ist noch stark involviert, Großbritannien, die USA auch. Kürzlich hat Mohssen Massarrat in einem Beitrag [5] den Gedanken ausgeführt, daß die USA angesichts der Tatsache, daß ihr Einfluß im Nahen Osten über kurz oder lang abnehmen wird und damit auch das Petrodollarsystem erodieren könnte, auf den Gedanken kommen könnten, daß die einzige Möglichkeit für sie, die Kontrolle zu behalten, noch darin besteht, den gesamten Nahen Osten zu destabilisieren und ins Chaos zu stürzen. Dann hätten wir tatsächlich ein Weltkriegsszenario. Auf jeden Fall wäre das ein unglaubliches Kriegschaos, das von den meisten Bürgern Westeuropas und den USA wahrscheinlich nicht als ein Weltkrieg verstanden werden würde, es aber trotzdem wäre.
SB: Herr Ritz, Sie sind Geschichtsphilosoph und darum bemüht, Ihre philosophischen Ansichten mit den politischen Arbeiten zu verbinden. Können Sie zu dieser Verbindung abschließend noch etwas sagen?
HR: Wenn man geschichtsphilosophische und ideengeschichtliche Zusammenhänge studiert, ist man eher in der Lage, große Entwicklungslinien zu erkennen und zu durchdenken, als wenn man diesen Anker in vergangenen Zeiten nicht hat. Die Geschichtsphilosophie hat mich u.a. auch darauf aufmerksam gemacht, daß wir im öffentlichen Bewußtsein ein unvollständiges Bild von der Geschichte haben. Insbesondere was die jüngste Geschichte seit dem Fall der Berliner Mauer angeht, so ist der Widerspruch zwischen dem öffentlichen Selbstbild und der Realität eklatant geworden. Das Problem besteht darin, daß unsere Öffentlichkeit oft den Westen als etwas Gutes identifiziert, er steht für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wenn man aber die Geschichte der Neuzeit, also der letzten 500 Jahre, studiert, wird sehr schnell deutlich: Wir haben vergessen, daß es im Westen auch eine ganz furchtbare Tradition gibt, die sich in den Kolonialverbrechen der Spanier in Lateinamerika, später auch anderer Kolonialmächte und dann in den zahlreichen Kriegen des 20. Jahrhunderts bemerkbar gemacht hat. Es gibt in der europäischen Geistesgeschichte nicht nur die Tradition von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern auch ein totalitäres, auf Machtentfaltung ausgerichtetes Potential, das parallel dazu immer existiert hat und sich sozusagen sporadisch bemerkbar macht.[6] Das ist zum Beispiel ein Zusammenhang, der sich mir beim Studium der Ideengeschichte erschlossen hat und der meinen Blick auf das Politische veränderte.
SB: Vielen Dank, Herr Ritz, für das Gespräch.
Fußnoten:
[1] Wie Hauke Ritz in seinem in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ erschienenen Beitrag „Die Rückkehr der Geopolitik. Eine Ideologie und ihre fatalen Folgen“ (3/2013, S. 71-80) darlegte, gilt der britische Geopolitiker Sir Halford Mackinder (1861-1947) als Begründer der durchaus umstrittenen Heartland-Theorie, derzufolge die Zentralregion Eurasiens das „Herzland“ wäre, dessen Kontrolle es einem Staat ermöglichen würde, die eurasischen Großmächte einzudämmen, den eigenen Einfluß dadurch auf ganz Eurasien auszudehnen und damit zur wichtigsten Macht der Welt aufzusteigen.
http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2013/maerz/die-rueckkehr-der-geopolitik
[2] Der 1928 geborene außen- und sicherheitspolitische Berater und Geostratege Zbigniew Brzezinski war unter anderem für den früheren US-Präsidenten James Carter tätig und gilt noch heute in Washington als einflußreich.
[3] Niall Ferguson, The Next War of the World, Foreign Affairs, 11. September 2006
http://www.foreignaffairs.com/articles/61916/niall-ferguson/the-next-war-of-the-world
[4] Die Welt als Schachbrett – Der neue Kalte Krieg des Obama-Beraters Zbigniew Brzezinski, von Hauke Ritz, in gekürzter Fassung erschienen in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 7, 2008. Ungekürzte Fassung im Nachrichtenmagazin Hintergrund
http://www.hintergrund.de/20080826235/politik/welt/die-welt-als-schachbrett-der-neue-kalte-krieg-des-obama-beraters-zbigniew-brzezinski.html
[5] Iran-Krieg trotz Obama? Neunpunkteplan zur Kriegsverhinderung im Mittleren und Nahen Osten. Von Mohssen Massarrat, Neue Rheinische Zeitung, 29. März 2013. Auch veröffentlicht im Online-Magazin Lebenshaus Schwäbische Alb:
http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/007854.html#axzz2Vk5xIz1U
[6] Zu dieser Thematik hat Hauke Ritz ein Buch mit dem Titel „Der Kampf um die Deutung der Neuzeit: Geschichtsphilosophie in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall“ verfaßt, das im Wilhelm Fink Verlag voraussichtlich im Oktober 2013 erscheinen wird.
9. Juni 2013
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de