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Die Toten von Kundus als Mahnung an das humanitäre Völkerrecht

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II41 Gerd Hankel

Foto: © 2013 by Schattenblick – www.schattenblick.de

Gerd Hankel (Arbeitsgruppe IV)

Die Toten von Kundus (und an vielen anderen Orten in Afghanistan, im Irak, im Jemen oder in Pakistan) als Mahnung an das humanitäre Völkerrecht

1. Mein Grundthese ist, dass das humanitäre Völkerrecht – so nennt man heute, reichlich euphemistisch, das frühere Kriegsvölkerrecht – in einem Krieg, der (auch) humanitäre Ziele verfolgt, zu viel Gewalt erlaubt, die im Ergebnis kontraproduktiv wirkt. Da es zu viel Gewalt erlaubt, spricht, wie ich zeigen werde, vieles dafür, dass dem ehemaligen Oberst Klein nachweisbar nichts vorzuwerfen ist. Mit Blick auf die zivilen Opfer des Bombardements ist das zu bedauern. Inwieweit sich ein Ausweg über das nationale Recht bietet, ist fraglich und wird vom Landgericht Bonn entschieden werden. Doch wird das Gericht auch die anerkannte Auslegung humanitärvölkerrechtlicher Normen zu beachten haben und nach denen ist dem Verantwortlichen für das Kundus-Bombardement mit hoher Wahrscheinlichkeit kein strafrechtlich relevanter Vorwurf zu machen.

2. Hintergrund meiner These ist die Feststellung, dass die Kriege in Afghanistan und im Irak, mit denen in der Außendarstellung zunehmend humanitäre Ziele verfolgt werden soll(t)en (Durchsetzung elementarer Menschenrechte, Implementierung liberal-demokratischer Strukturen, kurz: Schaffung von Voraussetzungen für ein besseres Leben der betroffenen Bevölkerungen und für Frieden in der Region), nicht nur gemessen an diesen Zielen gescheitert sind, sondern es generell nicht vermocht haben, die Gewalt in diesen Ländern zu begrenzen. Dazu beispielhaft einige Meldungen:

Meldung 1: „Am 18. Dezember 2011, fast neun Jahre nach der Invasion, verließ der letzte US-Besatzungssoldat den Irak. Bis dahin waren 4486 seiner Kameraden gefallen, Zehntausende sind für den Rest ihres Lebens gezeichnet, als Amputierte oder schwerst Traumatisierte. Das Iraq Body Count Project, die wohl zuverlässigste Schätzung für die irakischen Opfer während der US-Besatzungszeit, kommt auf mehr als 170 000 Tote in dem Land, dem Bush die Freiheit bringen wollte.“

Meldung 2: „Iraks Regierungschef Nuri al Maliki hat zum offiziellen Abzugstermin der US-Streitkräfte den 31. Dezember zum nationalen Feiertag erklärt. Dieses Datum werde fortan als ‚Tag des Iraks’ gefeiert, sagte Maliki bei einer Zeremonie vor Hunderten Menschen in Bagdad. ‚Das ist ein Fest für alle Iraker. Das ist der Tag, an dem der Irak souverän wird.’“

Meldung 3: „Allein in den Jahren 2007 bis 2012 haben nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan etwa 15 000 Zivilisten in dem Krieg am Hindukusch ihr Leben verloren. Für die deutliche Mehrheit dieser Todesfälle sind nach UN-Angaben die Aufständischen, unter ihnen die Taliban, verantwortlich, die solche Zahlen als westliche Propaganda zurückweisen.“

Meldung 4: „US-Sonderkommandos haben bei 1410 verdeckten Operationen allein zwischen dem 28. Januar und dem 29. April 2011 im Bereich des unter deutscher Führung stehenden Regionalkommandos Nord in Afghanistan 485 Verdächtige getötet. 2169 Personen seien gefangen genommen worden.“

Meldung 5 (der afghanische Präsident Hamid Karsai in einem Interview): „Der Westen hat versucht, den Krieg gegen den Terror zu ändern und die Aufständischen hier in Afghanistan zu bekämpfen. Die Aufständischen sind Ausdruck einer internen Rebellion. Wenn wir über die Aufständischen reden und sie das Resultat der Regierungsleistung sind, dann haben die Amerikaner und die Nato hier keine Aufgabe mehr.

3. Es ist sicher so, dass es eine ganze Reihe von Gründen für diese Entwicklung gibt, Gründe machtpolitischer, ökonomischer oder bellizistischer Natur. Sie beziehen sich jedoch alle auf die Entscheidung für den Krieg, auf das geltend gemachte jus ad bellum, und nicht auf das Recht im Krieg, das jus in bello, in dem jede dieser Meldungen ihren rechtmäßigen Platz zu haben scheint (wenn wir an die rechtliche Folgenlosigkeit dieser Meldungen denken). Rechtmäßig heißt folglich in diesem Zusammenhang: die Kriegshandlungen, die diesen Meldungen zugrunde lagen, galten und gelten als rechtmäßig, also die Getöteten, einschließlich der Zivilisten, sind rechtmäßig getötet worden und die so genannte Aufstandsbekämpfung bewegte und bewegt sich im Rahmen des Rechts.

Ich halte das für einen fatalen Zustand. Augenscheinlich lässt das aktuelle humanitäre Völkerrecht ein Maß an Gewalt zu, das dem Kriegsziel entgegensteht, ganz gleich, ob man dessen Formulierung für zynisch hält oder nicht. Und das bedeutet, dass der Erreichung des militärischen Ziels letztlich höchste Priorität eingeräumt wird, auch dann noch, wenn sich längst herausgestellt hat, wie falsch und perspektivlos diese Strategie ist. Ich möchte dies an zwei Beispielen erläutern:

4. Das erste Beispiel betrifft die Regelungen des humanitären Völkerrechts zum Kombattantenstatus.

Grundsätzlich gilt hier, dass für die Dauer der Phase, in der die Armeen zweier Staaten, eventuell unterstützt von Bündnispartnern, sich bekämpfen, das für den internationalen Konflikt gedachte humanitäre Völkerrecht anwendbar ist. Hat eine Seite die andere besiegt und eine ihr genehme Staatsführung an die Macht gebracht, die nunmehr von Aufständischen attackiert wird, ist der Konflikt ein interner mit der Folge, dass das dafür einschlägige Recht zu beachten ist. Daran ändert sich auch nichts, wenn die neu installierte Staatsführung, weil sie sich aus eigener Kraft nicht gegen die Aufständischen behaupten kann, weiterhin oder erneut von der ursprünglich siegreichen Seite militärischen Beistand erfährt. Der Krieg bleibt rechtlich gesehen ein interner, auf das Hoheitsgebiet des betreffenden Staates begrenzter, obwohl ein anderer Staat oder eine Staatenkoalition involviert ist. Begründet wird dies damit, dass es einem souveränen Staat frei stehe, zur Lösung interner Probleme Hilfe von außen zu erbitten. Eine derartige „Intervention auf Einladung“ verstoße nicht gegen das an Staaten gerichtete Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta.

Was sich zunächst durchaus folgerichtig ausnimmt – das Konzept der staatlichen Souveränität ist eben immer noch ein hohes Gut im Völkerrecht -, erweist sich jedoch am Maßstab der Realität gemessen als überaus problematisch. Als der Afghanistankrieg im Oktober 2001 begonnen wurde, war er ein internationaler Konflikt, in dem auf der einen Seite die USA und ihre Verbündeten, auf der anderen Afghanistan mit seiner Taliban-Regierung standen. Der Krieg endete nach kurzer Zeit mit einem Sieg der internationalen Streitkräfte, eine Interimsregierung unter Hamid Karsai wurde installiert und zur Begleitung des Wiederaufbauprozesses die ISAF-Mission ins Leben gerufen. Die damit verbunden Hoffnungen allerdings trogen. Taliban und Al-Qaida formierten sich zu einem immer stärker werdenden Widerstand gegen die Karsai-Regierung und dessen ausländische Stützen. Der Krieg, der sich daraus entwickelte, war nun allerdings kein internationaler mehr, auch wenn die ausländischen Truppen die eigentlich kriegführenden Parteien waren. Doch diese waren eben „auf Einladung“ der Interimsregierung im Land, die zwar trotz Wahlen und Verfassung nie den Ruf verlor, eine Marionettenregierung zu sein, nichtsdestoweniger aber formal als rechtmäßige Vertretung des Landes anerkannt wurde.

Man mochte den schalen Beigeschmack, den die kaum kaschierte Selbstmandatierung hervorrief, noch durch den Gedanken zu überdecken versuchen, dass es bei dem Unternehmen ja hauptsächlich um – zudem durch UN-Aufsicht abgesicherte – humanitäre Ziele ging. Die Folgen jedoch, die mit der geänderten Rechtsnatur des Krieges einhergingen, waren fatal: Waren Taliban-Kämpfer zur Zeit des internationalen Konflikts nach dem humanitären Völkerrecht noch rechtmäßige Kombattanten der damaligen Regierung, wurden sie nun, nach der Umwandlung des Krieges in einen internen Konflikt infolge der „Einladung“, zu Aufständischen gegen den eigenen Staat. Und für Aufständische gibt es keinen Kombattantenstatus und auch keine Kriegsgefangenschaft, d.h. anders als Kombattanten in einem internationalen bewaffneten Konflikt genießen sie keine Immunität für Tötungshandlungen, die sie vor einer Gefangennahme begangen haben. Sie können, da sie sich gewaltsam gegen die staatliche Ordnung aufgelehnt haben, wegen Mordes, Hochverrats oder eines anderen Verbrechens bestraft werden, auch mit dem Tod, wenn dies die relevanten Strafgesetze vorsehen. Es gibt keine Norm des für den internen Konflikt geltenden humanitären Völkerrechts, die dies verbieten könnte. Sie sind, aus der Perspektive des Staates, den sie bekämpfen, Kriminelle. Nichts legitimiert ihr Vorgehen.

Es bedarf wohl keines großen Vorstellungsvermögens zu der Annahme, dass eine solche Konsequenz, die obendrein noch rechtlich abgesichert ist, nicht der Befriedung eines Landes dient. Das zeigt das Beispiel Afghanistan, und das zeigt auch das Beispiel Irak, wo in gleicher Weise, quasi per Federstrich und bei de facto gleich bleibender Konstellation, ein neues Rechtsregime hergestellt wurde. Massenhafte Inhaftierungen und eine Menschenrechtslage in den Gefängnissen, die sich erwiesenermaßen zwischen „zweifelhaft“ und „unmenschlich“ bewegt, tragen unweigerlich zur Beschleunigung der Gewaltspirale bei. Es ist nicht zu erkennen, wie dieses Mehr an tödlicher Gewalt mit dem eigentlich erforderlichen, auf Gewaltbegrenzung abzielenden Verständnis vom humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen ist.

5. Das zweite Beispiel lässt sich gut am Fall des ehemaligen Oberst Klein verdeutlichen. Das gegen ihn und einen Hauptfeldwebel namens Wilhelm eingeleitete Verfahren wegen des Todes einer damals noch unbestimmten Anzahl von Menschen infolge eines Bombenangriffs, der von ihm angeordnet worden war, wurde von der Bundesanwaltschaft bekanntlich eingestellt. Für alle diejenigen, die die zur Prüfung heranzuziehende Norm des Völkerstrafgesetzbuchs kennen, konnte das keine besondere Überraschung sein. Denn § 11 Abs. 1 Nr.  3 setzt nicht nur voraus, dass bei einem militärischen Angriff „die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte in einem Ausmaß verursach[t] wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht“, er knüpft die Strafbarkeit des Handelnden auch daran, dass dieser vor dem Angriff das Missverhältnis zwischen Vor- und Nachteil „als sicher erwartet“ hat. Auf letzteres aber, d.h. auf eindeutig vorsätzliches Handeln in Kenntnis der Folgen, weise, so die Bundesanwaltschaft, nichts hin, ganz abgesehen davon, dass die entscheidende Tatbestandsvoraussetzung, eben das Missverhältnis, nicht angenommen werden könne. Die hier entscheidende Vorschrift des § 11 Abs. 1 Nr. 3 Völkerstrafgesetzbuch hat ihren Ursprung in einer Regelung des humanitären Völkerrechts, die in ähnlichen Worten „unterschiedslose Angriffe“, bei denen „Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung […], die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“, verbietet. Angaben zur zulässigen Verhältnismäßigkeit enthält die Vorschrift nicht und sind auch in entsprechenden Kommentierungen nicht zu finden. Entstehungsgeschichte und Wortlaut der Regelung sprechen jedoch dafür, dass die Verhältnismäßigkeit weit zu verstehen ist. Sie sucht den Kompromiss zwischen militärischer Notwendigkeit und Humanitätsgebot, aber mit deutlicher Privilegierung der militärischen Komponente, was bereits durch die Formulierung „in keinem Verhältnis zum erwarteten […] Vorteil“ unterstrichen wird. Die Absolutheit, wie sie die Aussage „in keinem Verhältnis“ beinhaltet, wird noch verstärkt durch den Zweifeln oder Unsicherheit Raum lassenden Verweis auf den nur zu „erwarteten“ Vorteil. Doch damit nicht genug. Die derart ausgeweitete Verhältnismäßigkeit kann der militärisch Verantwortliche nur überschreiten, wenn er vorsätzlich gehandelt hat, wenn er also „Kenntnis“ von der so gearteten Unverhältnismäßigkeit der Operation hatte und trotzdem den Angriffsbefehl erteilt hat.

Mit anderen Worten, die Voraussetzungen, die das humanitäre Völkerrecht für eine Strafbarkeit bei einem Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, ja auch nur für die objektive Feststellung eines solchen Verstoßes bietet, sind denkbar schlecht. Und der Ausweg, den Art. 57 Abs. 2 Buchst. a lit. i, ii und Buchst. c des I. Zusatzprotokolls bietet, ist letztlich keiner. Denn in den genannten Vorschriften geforderte Beachtung von Vorsichtsmaßnahmen vor einem Angriff (Auswahl der Ziele, Wahl der Angriffsmittel und –methoden, Warnung der Zivilbevölkerung) steht unter dem Vorbehalt ihrer Durchführbarkeit. Die aber lässt, auch bei objektiver ex ante-Betrachtung, einen weiten, nur bei nachweislichen Extremfällen (Bombardierung eines ganzen Dorfes zur Bekämpfung einzelner feindlicher Soldaten) eingeschränkten Beurteilungsspielraum.

Diesen Befund bestätigt auch der beinahe identische Tatbestand im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, wo für eine Strafbarkeit die Kenntnis vom Eintritt humanitärer Schäden gefordert wird, „die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“. Indem diese Bestimmung wie auch ihre Entsprechung im deutschen Völkerstrafgesetzbuch auf den insgesamt erwarteten militärischen Vorteil abstellen, schieben sie die Disproportionalitätsgrenze noch weiter hinaus als die Regelungen im Zusatzprotokoll, in denen die Erweiterung in Gestalt des Adverbs „insgesamt“ fehlt. Im Sinne des Grundsatzes von der Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung wird jedoch das Zusatzprotokoll hier genauso zu lesen sein wie Völkerstrafgesetzbuch und Römisches Statut, d.h. die Verhältnismäßigkeitserwägungen müssen nicht auf die konkrete Situation bezogen sein, sondern dürfen sich – worauf auch Deutschland in seinem bei der Ratifikation eingelegten Vorbehalt hinweist – an dem größeren Kontext des Kriegsgeschehens orientieren. Von Bedeutung ist das vor allem auch für die Strafbarkeit nach dem „normalen“ Strafgesetzbuch, bei dessen Anwendung auf Kriegshandlungen sich die Rechtswidrigkeit nach dem humanitären Völkerrecht bemisst. Wo die Rechtswidrigkeitsschwelle so hoch ist, dass sie sich im Gesamtgeschehen nahezu auflöst, bleibt folglich so gut wie kein Raum mehr für ein strafbares Verhalten, ob es sich nun um vorsätzlichen Totschlag oder fahrlässige Tötung handelt.

6. Wie kann diesem Missstand abgeholfen werden? Und das mitnichten, um künftige Kriege à la Afghanistan- oder Irak-Krieg besser führbar zu machen, sondern um sie frühzeitig zu beenden oder sogar, wegen ihrer rechtlichen Undurchführbarkeit, ganz zu vermeiden. Und um dann, wenn tatsächlich eine humanitäre Katastrophe vorliegen sollte, nicht die Fehler der Vergangenheit – und hier wäre Libyen noch hinzuzufügen – zu wiederholen. Was also müsste unternommen werden? Die Antwort ist einfach und eben darum wohl international schwer umzusetzen. Dennoch müsste künftig mindestens dem Grundgedanken nach zweierlei gelten, erstens:

Bei internationalen, UN-mandatierten Militärmissionen, die humanitäre Ziele verfolgen, gelten die Mitglieder der bewaffneten Einheiten aller am Konflikt beteiligten Parteien als Kombattanten. Im Falle ihrer Gefangennahme werden sie als Kriegsgefangene behandelt. Sie behalten die mit dieser Rechtsstellung verbundenen Vergünstigungen, auch wenn strafrechtliche Maßnahmen gegen sie ergriffen werden.

Mitglieder von bewaffneten Einheiten, die im Widerspruch zu den Regeln des humanitären Völkerrechts heimtückisch kämpfen, verwirken den Anspruch, Kombattanten bzw. Kriegsgefangene zu sein.

Im Einzelfall mag es schwierig sein, die Grenze zwischen heimtückischem, terroristischem und noch rechtskonformem Kriegshandeln zu ziehen. Den Taliban-Kämpfern einen Kombattanten-Status zuzubilligen bedeutet auch, im Grundsatz von einem rechtmäßigen Kriegshandeln bei ihnen auszugehen. Keinesfalls könnten ihre Aktionen wie bisher pauschal mit dem Verdikt „terroristisch“ bedacht werden. Denn das liefe darauf hinaus, weiterhin der eskalationsfördernden Gerechtigkeitsvorstellung anzuhängen, dass Soldaten, die in einem gerechten Krieg kämpfen, gegen den Feind Gewalt anwenden dürfen, während in einem ungerechtfertigten Krieg Kämpfende dies nicht tun dürfen – und das, obwohl Letztere zudem noch mit Kampfmitteln und –methoden (gezielte Tötungen, Einsatz von Drohnen und privaten Sicherheitsfirmen) konfrontiert werden, die oft am Rande des Rechts oder jenseits davon anzusiedeln sind. Auch wenn daraus nach dem Prinzip des ex injuria jus non oritur sicher nicht die Berechtigung zu einem vergleichbaren Verhalten hergeleitet werden darf, trägt doch der arrogante Umgang mit dem Recht zu einer allgemeinen Auflösung der rechtlichen und moralischen Positionen bei. Dass sich darauf Mitglieder terroristischer Gruppierungen, wenn sie entsprechende Akte begehen, nicht rechtfertigend berufen können, versteht sich ohne nähere Erläuterung. Aber auch sie fallen nicht durch das normative Raster des Rechts. Das grundlegende humanitärrechtliche Gebot der menschlichen Behandlung, in den Konventionen und Zusatzprotokollen an mehreren Stellen verankert, gilt auch für sie.

Und zweitens müsste auch zumindest dem Grundgedanken nach gelten:

Die militärische Notwendigkeit genießt keinen Vorrang vor dem Humanitätsgebot.

Sobald es die militärische Lage erlaubt, sind bei einer humanitären Intervention Bodentruppen einzusetzen.

Ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass es infolge eines Angriffs zu Verlusten an Menschenleben unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung, zur Verwundung von unbeteiligten Zivilpersonen sowie zu Zerstörungen oder Beeinträchtigungen wichtiger ziviler Objekte kommt, ist von diesem Angriff abzusehen.

Dass bei einer humanitären Intervention eine tatsächlich humanitäre Kriegführung praktiziert werden sollte, ergibt sich bereits aus deren Zielsetzung. Das bedeutet nicht, dass in Situationen, in denen die Zivilbevölkerung bzw. lebenswichtige zivile Einrichtungen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden können, nicht auch die militärische Notwendigkeit die Grenze des rechtlich Erlaubten markieren kann. Mit den zulässigen Mitteln und Methoden wird dieser Krieg geführt wie jeder andere, einschließlich der gezielten Tötung von als solchen zweifelsfrei identifizierten feindlichen Kämpfern. Besteht jedoch die sehr hohe Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der Zivilbevölkerung, bemisst sich die Zulässigkeit der fraglichen Kriegshandlung allein nach dem Humanitätsgebot, was im Regelfall zur Folge haben wird, dass sie nicht durchgeführt werden kann. Das humanitärvölkerrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip ist nicht mehr anwendbar, die ihm zeitlich vorausgehenden Pflichten der Aufklärung und Warnung entfallen. Das heißt mitnichten, dass die Soldaten der Interventionskräfte schutzlos sind. Zwar gehen sie ein erhöhtes Risiko ein, wenn sie nur Waffen einsetzen dürfen, die zielgenau wirken und deren Verwendung eben ausgeschlossen ist, wenn, trotz erhöhter eigener Gefährdung, nachteilige Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung drohen. Und das Risiko für die Soldaten wird außerdem noch dadurch erhöht, dass sie möglichst frühzeitig im Verband von Bodentruppen eingesetzt werden, um den Feind direkt, d.h. ohne Zuhilfenahme von potentiell zielungenauen Distanzwaffen, bekämpfen zu können. In beiden Fällen lässt sich jedoch das erhöhte Risiko damit rechtfertigen, dass Leben und Gesundheit Unbeteiligter geschont werden sollen. Dies nicht zu tun, liefe darauf hinaus, diese Güter, sofern sie solche der Interventionskräfte sind, schon bei einer bloßen Gefährdungslage für wertvoller zu erachten als die korrespondierenden Güter auf Seiten der Zivilbevölkerung, zu deren Gunsten interveniert wird – ein selbst nach basalen Gerechtigkeitvorstellungen unhaltbares Ergebnis. Ebenso falsch wäre es, nun in einer Art Gegenreflex den Interventionseinsatz mit einem suizidalen Opfergang gleichzusetzen. Das gewohnheitsrechtlich verankerte Recht auf Notwehr und Nothilfe besteht fort. In seiner deutschen Ausprägung beispielsweise erlaubt es im Grundsatz alle Maßnahmen, die zur Abwehr eines Angriffs erforderlich sind. Das können unter Umständen Maßnahmen sein, die in Rechtspositionen Dritter, nicht am Angriff Beteiligter eingreifen. Aber Voraussetzung ist und bleibt auch hier ein Verteidigungshandeln in einer konkreten Angriffssituation und eben kein Handeln im Rahmen eines andere Ziele verfolgenden Kriegsgeschehens.

7. Es mag einige Schwierigkeiten bereiten, sich auf die vorstehend dargestellten Überlegungen einzulassen. Zu nahe liegt vielleicht der Verdacht, durch sie den Krieg als ein Instrument der (Macht)Politik erhalten zu wollen. Doch das Gegenteil ist richtig: Dass der Krieg heute nur ultima ratio internationaler und nationaler Politik sein darf und sollte, ergibt sich aus Art. 2 und aus der Systematik von Kapitel VII der UN-Charta. Wenn er jedoch geführt wird und wenn er vor allem geführt wird, um eine extreme humanitäre Krise zu beseitigen und einer internationalen Schutzverantwortung nachzukommen, dann sollte berücksichtigt werden, was ich verständlich zu machen versucht habe. Wird es nicht berücksichtigt, wäre es besser, wegen der erwartbaren Dynamik und Eskalationsgefahr von der Anwendung militärischer Gewalt abzusehen .

Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de