Die Umsetzung des humanitären Völkerrechts zum Schutz von Zivilpersonen in Individualhaftungsansprüche
Prof. Dr. Peter Derleder 28209 Bremen, den 23.1.2012
Mail: derleder@uni-bremen.de
Die Umsetzung des humanitären Völkerrechts zum Schutz von Zivilpersonen in Individualhaftungsansprüche
nach deutschem Recht
Einleitung
Günter Frankenberg hat sich durchgehend gegen die Ausklammerung des Ausnahmezustands aus dem Recht gewandt, auch wenn diese mit dem Argument aufgetreten ist, die verfassungsrechtliche Ordnung könne die Voraussetzungen ihres Funktionierens nicht gewährleisten. Der klassische Ausnahmezustand ist der Krieg, den aber das Völkerrecht vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls rechtlichen Regeln zu unterwerfen versucht hat. Die traditionelle Konzeption des Völkerrechts lief allerdings schon aufgrund der Einsicht in die politischen Machtlagen auf ein Verständnis als zwischenstaatliches Recht hinaus, so dass nur Staaten als Völkerrechtssubjekte Ansprüche geltend machen konnten, darunter auch solche auf den Schutz ihrer Staatsangehörigen. Der Staat mediatisiert danach die eventuellen Ansprüche der Individuen. Dieses Konzept hat auch den mit welthistorischer Singularität brutalisierten Zweiten Weltkrieg überstanden, woraus am Ende immerhin die Einsicht in die Notwendigkeit einer weiteren Humanisierung des Kriegsvölkerrechts gewachsen ist, die sich vor und während der Periode des Kalten Kriegs auch in der völkerrechtlichen Normsetzung, insbesondere auch zum Schutz der Zivilbevölkerung, niedergeschlagen hat.
Die Bundesrepublik Deutschland war während des Kalten Kriegs zwar ein im Rahmen der Nato hochgerüsteter Frontstaat, konnte aber trotz aller anfänglichen Banalisierung des Atomkriegs und der Ignorierung der zu gewärtigenden Atomwaffeneffekte auf deutschem Boden am Ende dieser historischen Epoche auf Jahrzehnte friedlicher Entwicklung zurückblicken. Deutsche Soldaten waren während dieser Zeit wegen der stets noch präsenten Erinnerung an die nationalsozialistische Schreckensherrschaft über den größten Teil Europas nicht im Kampfeinsatz. Die Regierung Kohl kaufte sich nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten noch Anfang der 90er Jahre von Kampfeinsätzen im Nahen Osten durch finanzielle Leistungen frei. Erst im Kosovo-Konflikt kam es unter einer rot-grünen Koalition, die in den ersten Wochen ihrer Regierungszeit unter entsprechenden internationalen Druck geriet und bei der Auflösung Jugoslawiens selbst menschenrechtlich argumentierte, wieder zu einer unmittelbaren Kriegsbeteiligung, die dann aber im Zweiten Irakkrieg nicht wiederholt wurde. Stattdessen engagierte sich die Bundesrepublik nach dem Sturz der Taliban-Regierung in Afghanistan in einer militärisch dominierten Aufbauhilfe, die zunehmend jedoch in kriegsähnliche Verhältnisse führte. Im Kosovo wie in Afghanistan stand vor allem der Schutz der Zivilbevölkerung im Mittelpunkt der rechtlichen Auseinandersetzungen, die nunmehr auf der Basis des sog. humanitären Kriegsvölkerrechts ausgetragen werden.
In den Rechtsstreitigkeiten vor deutschen Gerichten standen nach und nach Konflikte aus dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere aus Vergeltungsmassakern, aus dem Kosovo-Konflikt und nunmehr auch aus dem Afghanistan-Einsatz auf der Agenda. Zunehmend wird dabei die Frage pointiert, ob das neu geschaffene humanitäre Völkerrecht wenigstens ein Anknüpfungspunkt für innerstaatliche Individualansprüche ist. Dementsprechend erscheint es legitim, dass auch ein Privatrechtler wie der Verfasser sich um die Konturen solcher Ansprüche kümmert. Dies soll hier in der Weise geschehen, dass zunächst einmal die Grundlinien der Entwicklung zu einem humanitären Völkerrecht kurz skizziert (dazu II), dann die Anknüpfungspunkte der verschiedenen Judikate der deutschen Gerichte erörtert (dazu III) und schließlich die rechtsdogmatischen Konsequenzen für die Sanktionierung von Völkerrechtsverstößen (dazu IV) gezogen werden.
Die Regeln des humanitären Völkerrechts
Das humanitäre Völkerrecht ist in den vier Genfer Abkommen vom 12.8.1949 ausdifferenziert und von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert worden, von denen insbesondere das IV. Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten bedeutsam ist. Nach Art. 3 dieses Abkommens ist jede der an bewaffneten Konflikten, die keinen internationalen Charakter aufweisen, beteiligte Partei gehalten, Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, unter allen Umständen mit Menschlichkeit zu behandeln. Zu diesem Zweck sind insbesondere Angriffe auf Leib und Leben verboten (Art. 3 Nr. 1 S. 2 Buchst. a). Die Genfer Abkommen werden durch zwei Zusatzprotokolle vom 8.6.1977 konkretisiert, von denen das erste den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte regelt (ZP I).
Die Regelungen des ZP I
Dort bestimmt Art. 51 I, dass die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren genießen. Wörtlich heißt es in Art. 51 II, dass weder die Zivilbevölkerung noch einzelne Personen das Ziel von Angriffen sein dürfen und dass die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, verboten ist. In Abs. 4 werden „unterschiedslose Angriffe“ verboten. Sie werden definiert als Angriffe, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden (Art. 51 IV Buchst. a), bei denen Kampfmethoden angewendet werden, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet (Art. 51 IV Buchst. b) oder deren Wirkungen nicht entsprechend begrenzt werden können (Art. 51 IV Buchst. c). Als unterschiedslos wird speziell ein Angriff durch Bombardierung bezeichnet, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen (Art. 51 V Buchst. b).
Die in Art. 57 des ZP I vorgesehenen vorsorglichen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung bleiben davon unberührt. Insoweit ist stets darauf zu achten, dass die Zivilbevölkerung, Zivilpersonen und zivile Objekte verschont bleiben und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen sind.
Nach Art. 57 II Buchst. a ZP I hat, wer einen Angriff plant oder beschließt, alles praktisch Mögliche zu tun, um sicherzugehen, dass die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind und nicht unter besonderem Schutz stehen (i). Bei der Wahl der Angriffsmittel und -methoden sind alle praktisch möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen und die Beschädigung ziviler Objekte, die dadurch mit verursacht werden könnten, zu vermeiden und in jedem Fall auf ein Mindestmaß zu beschränken (ii). Von einem Angriff ist Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen (iii). Ein Angriff ist nach Art. 57 II Buchst. b ZP I endgültig oder vorläufig einzustellen, wenn sich erweist, dass sein Ziel nicht militärischer Art ist, dass es unter besonderem Schutz steht oder dass damit zu rechnen ist, dass der Angriff auch Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen. Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, muss nach Art. 57 II Buchst. c ZP I eine wirksame Warnung vorausgehen, es sei denn, die gegebenen Umstände erlauben dies nicht.
Es gibt jedoch auch in dem ZP I keine ausdrückliche Regelung von Individualansprüchen. Die Vertragsparteien und die am Konflikt beteiligten Parteien sollen jedoch nach Art. 86 I schwere Verletzungen ahnden und alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um sonstige Pflichtverletzungen zu unterbinden. Ferner sieht Art. 91 vor, dass eine am Konflikt beteiligte Partei, welche die Abkommen oder dieses Protokoll verletzt, gegebenenfalls zum Schadenersatz verpflichtet ist. Sie ist für alle Handlungen verantwortlich, die von den zu ihren Streitkräften gehörenden Personen begangen werden.
Die Regelungen des ZP II
Das Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte stammt ebenfalls aus dem Jahre 1977 und ist von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 ratifiziert worden. Es enthält keine in gleicher Weise wie beim ZP I ausdifferenzierten Normen, sondern erklärt in Art. 13 I 1, dass die Zivilbevölkerung und einzelne Personen allgemeinen Schutz vor den Gefahren von Kampfhandlungen genießen. Nach Art. 13 II 1 ZP II dürfen weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist nach § 13 II 2 ZP II ebenfalls verboten. Zivilpersonen genießen nach Art. 13 III ZP II Schutz, sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.
Insgesamt bezweckt somit das humanitäre Konfliktvölkerrecht, das auch die nicht internationalen Konflikte umfasst, soweit wie möglich einen Schutz der Zivilbevölkerung und einzelner Zivilpersonen gegenüber militärischen Maßnahmen. Dementsprechend hat auch der IGH zu Art. 3 des IV. Genfer Abkommens im Nicaragua-Konflikt entschieden, dass auch in nicht internationalen bewaffneten Konflikten der Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten ist. In gleicher Weise hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY) anerkannt, dass der Schutz der Zivilbevölkerung und der Zivilpersonen unabhängig davon gilt, ob es sich um einen internationalen bewaffneten Konflikt handelt oder einen nicht internationalen. Rechtsdogmatisch ist somit aufgrund der geringeren Ausdifferenzierung des ZP II hinsichtlich des Schutzes der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte ein Erst-recht-Schluss geboten, nach dem die Verbote des Art. 57 ZP I, die einen unterschiedslosen, einen unverhältnismäßigen und einen Angriff ohne Vorwarnung ausschließen, auch für den nicht internationalen Konflikt gelten.
Durch die Konkretisierung des humanitären Konfliktvölkerrechts ist somit fraglich geworden, ob nur die Staaten konfliktvölkerrechtliche Ansprüche geltend machen können, der humanitäre Individualschutz somit weitgehend auf der Strecke bleibt, wenn die machtpolitische Rücksichtnahme zwischen den Staaten dominiert. Insofern könnte sich ein Vakuum effektiver Sanktionierung abzeichnen, das auch von den deutschen Gerichten nicht ohne Weiteres akzeptiert wird. Dementsprechend werden hier die maßgeblichen Leitentscheidungen des BVerfG und des BGH darauf durchgesehen, ob sie eine Anknüpfung für individualrechtliche Ansprüche bei Verletzung des Kriegsvölkerrechts und des humanitären Völkerrechts gewähren.
Die höchstrichterliche deutsche Judikatur
Die Vorbemerkung aus der Entscheidung zum Arbeitsentgelt für NS-Zwangsarbeiter
Die erste einschlägige Bemerkung des 2. Senats des BVerfG findet sich in der Zwangsarbeiter-Entscheidung vom 13.5.1996. Hier ging es um Klagen ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Bezahlung der Zwangsarbeit, die sie in dem Konzentrationslager Auschwitz erbracht hatten. Das LG Bonn legte dem BVerfG nach Art. 100 GG die Frage vor, ob das Entschädigungsansprüche ausschließende Allgemeine Kriegsfolgengesetz (AKG) mit dem Grundgesetz vereinbar sei und ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts bestehe, nach der solche Ansprüche nicht individuell durchsetzbar, sondern nur auf zwischenstaatlicher Ebene geltend zu machen seien. Das BVerfG tat die Ansprüche – lange vor der im Jahr 2000 gefundenen Stiftungslösung – mit Zulässigkeitserwägungen ab, da das vorlegende Gericht die Entscheidungserheblichkeit des § 1 AKG und der maßgeblichen Regel des Völkerrechts nicht hinreichend dargetan habe. Es wies aber dann noch darauf hin, dass das Prinzip einer ausschließlichen völkerrechtlichen Staatenberechtigung in den Jahren bis 1945 auch für die Verletzung von Menschenrechten gegolten habe. Der Einzelne habe weder die Feststellung des Unrechts noch einen Unrechtsausgleich verlangen können. Er habe weder nach Völkerrecht noch in der Regel nach dem innerstaatlichen Recht des einzelnen Staates einen subjektiven, durchsetzbaren Anspruch gehabt. Dann hieß es wörtlich: „Erst in der neueren Entwicklung eines erweiterten Schutzes der Menschenrechte gewährt das Völkerrecht dem Einzelnen ein eigenes Recht, berechtigt andere Völkerrechtssubjekte auf der Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Intervention bei gravierenden Verstößen und entwickelt vertragliche Schutzsysteme, in denen der Einzelne seinen Anspruch auch selbst verfolgen kann.“
Aus dieser kurzen Bemerkung wird zwar klar, dass das BVerfG eine Völkerrechtssubjektivität von Individuen für möglich hält, allerdings nur für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei jedoch unklar bleibt, um was für einen Anspruch es sich handeln sollte. Gemeint sein konnte sowohl der Anspruch auf Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts wie auch ein Wiedergutmachungsanspruch. Eine solche Aussage war geeignet, die Bundesrepublik Deutschland vor weiteren Verpflichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg zu bewahren, und schien auch vor der Verstrickung der Bundesrepublik in den Nato-Einsatz beim Kosovo-Konflikt keine allzu große Belastung.
Wiedergutmachung für Massaker des Zweiten Weltkriegs?
Der zweite höchstrichterliche Anknüpfungspunkt findet sich in den sog. Distomo-Urteilen des BGH und des BVerfG. Hier ging es noch einmal um ein Kriegsverbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg. Dass noch einmal der Versuch unternommen wurde, evident völkerrechtswidriges Verhalten zu sanktionieren, beruhte auf der Abscheulichkeit dieses Verbrechens, wäre aber ohne die nachhaltige Initiative des 1940 geborenen Griechen Argyris Sfountouris nicht zustande gekommen. Mit seinen drei Schwestern hatte er eines der schlimmsten Massaker des Zweiten Weltkrieges überlebt. Am 10. Juni 1944, also kurz nach der Invasion der Alliierten in der Normandie, wurde dieses von einer SS-Spezialdivision in dem Dorf Distomo (Mittelgriechenland) begangen.
Aufgrund einer sog. Sühnemaßnahme nach Kämpfen mit Partisanen wurden zunächst zwölf Bauern dieses Dorfes erschossen und dann in einem mit Vergewaltigungen verbundenen Blutrausch über 200 Einwohner einschließlich Säuglingen, Kindern und Schwangeren umgebracht. Das Dorf selbst wurde niedergebrannt. Sfountouris erlebte mit seinen Schwestern den Tod seiner Eltern unmittelbar. Als Kriegswaise kam er in ein Waisenhaus nach Piräus, wo er mit über 1000 Kriegswaisen jahrelang vom Hungertod bedroht war. Eine Schweizer Rote-Kreuz-Delegation wählte ihn schließlich für das Kinderdorf Pestalozzi in Torgen/Schweiz aus, wo er die Schule besuchen und mit dem Abitur abschließen konnte. Er wurde Physiklehrer, übersetzte griechische Dichter ins Deutsche, beteiligte sich dann an Entwicklungshilfeprojekten und begann nach der Wiedervereinigung Deutschlands mit seiner Aufarbeitung der griechischen Geschichte, indem er nach dem Scheitern bei der griechischen Justiz mit seinen Schwestern den Weg durch die deutschen Gerichtsinstanzen mit einer Entschädigungsklage beschritt. 50 Jahre nach dem Massaker war also ein Zusammentreffen günstiger Zufälle notwendig, um die Bundesrepublik noch einmal mit den Schrecken der nationalsozialistischen Periode der deutschen Geschichte zu konfrontieren.
Das Urteil des BGH aus dem Jahre 2003
Die deutschen Instanzgerichte behandelten den Entschädigungskläger höflich, aber bestimmt, mit dem entschiedenen Willen, jede neue Reparation zurückzuweisen. Auch der BGH schloss sich in einer ausführlich begründeten Entscheidung des Jahres 2003 dieser Auffassung an. Er hielt den Urteilen der griechischen Gerichte gleichfalls den Immunitätsgrundsatz entgegen. Selbst ein Verstoß gegen zwingende Normen des Kriegsvölkerrechts könne dessen Durchbrechung nicht rechtfertigen. Ferner wurde eine eigenständige Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland verneint.
Schwieriger zu beurteilen waren die Verpflichtungen aufgrund der Rechtsnachfolge nach dem Deutschen Reich. Zunächst wurde das Londoner Schuldenabkommen von 1953 herangezogen, das auch für Griechenland galt. Es wurde generell als Moratorium zu Stundung von Reparationen verstanden. Ferner hieß es, die Reparationsfrage sei durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12.9.1990 fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg „überholt“. Das war zwar keine juristische Begründung, entsprach aber der politischen Wirklichkeit. Verzichtsvereinbarungen in diesem Vertrag konnten an sich auch nur dessen Parteien binden und hatten somit für nicht beteiligte Staaten wie Griechenland keine Bedeutung und erfassten individuelle Entschädigungsansprüche nicht.
Zu den Individualansprüchen führte der BGH aus, solche hätten jedenfalls im Jahr der Tatbegehung, also 1944, noch nicht bestanden. Aus dem Völkerrecht des Jahres 1944 seien keine Deliktsansprüche abzuleiten, da die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 keine Individualansprüche gekannt habe, sondern nur Ansprüche der Vertragsmächte. Dies gelte auch für Verbrechen gegenüber wehrloser Zivilbevölkerung, die wegen der Eingliederung der SS-Einheit in die Wehrmacht als Kriegshandlungen gegenüber Partisanen anzusehen seien. Die Rechtsentwicklung seit 1944 könne nicht berücksichtigt werden.
Weiterhin prüfte der BGH einen Anspruch aus Staatshaftung gem. § 839 BGB i.V. mit Art. 131 Weimarer Reichsverfassung (WRV). Das Völkerrecht schließe einen solchen Anspruch nicht aus. Es handle sich auch um eine Amtspflichtverletzung, da Soldaten die Amtspflicht hätten, sich nicht in völkerrechtswidriger, kriegsverbrecherischer Art an „fremdem Leben und Eigentum zu vergreifen“. Dennoch greife das nationale Haftungssystem nicht, da das damalige Völkerrecht nur für die Kriegsparteien hinsichtlich der Kriegshandlungen als kollektiven Gewaltakten eine Haftung eröffnet habe, nicht aber für den einzelnen verletzten Menschen. Dies wurde noch mit der Erwägung abgesichert, Individualansprüchen stehe auch das Reichsbeamtenhaftungsgesetz (RBHG) von 1910 entgegen, nach dessen § 7 Angehörigen eines auswärtigen Staates nur bei verbürgter Gegenseitigkeit Schadensersatzansprüche eingeräumt seien. Mit Griechenland wurde die Gegenseitigkeit jedoch erst 1957 verbürgt. Die während des Zweiten Weltkriegs erlassene PersonenschädenVO biete ebenso wenig eine Grundlage für Individualansprüche von Ausländern.
Es könne dahinstehen, ob nach dem heutigen Amtshaftungsrecht der Bundesrepublik Deutschland im Lichte des Grundgesetzes und der „Weiterentwicklungen im internationalen Recht“ Ähnliches gelten würde oder ob der zum Rechtsinstitut des allgemeinen Aufopferungsanspruchs vertretene Gedanke zugrunde zu legen sei, dieser Anspruch sei nur für den Normalfall gedacht, also nicht für „staatliche Katastrophenfälle wie namentlich Kriege“, deren Auswirkungen über den allgemeinen Aufopferungsanspruch entschädigungsrechtlich nicht reguliert werden könnten, sondern nur über gesetzliche Ausgleichsnormen und Ausgleichsmaßstäbe. Schließlich wurde auch noch ein Anspruch aus enteignungs- bzw. aufopferungsgleichem rechtswidrigem Eingriff mit der Begründung verneint, für schuldhaft rechtswidrige Maßnahmen könne lediglich ein Amtshaftungsanspruch bestehen. Der aus den §§ 74, 75 EinlALR hergeleitete Aufopferungsgedanke sei auf Maßnahmen der Verwaltung bezogen und könne nicht auf Kriegsschäden erstreckt werden.
Auch wenn die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen somit sämtlich durchdekliniert wurden, hält die Begründung des BGH einer kritischen Prüfung zu einem guten Teil nicht stand. Überzeugend ist zwar der Ausgangspunkt, dass das Völkerrecht gegenüber innerstaatlichen Ansprüchen, insbesondere aus Amtshaftung, keine Exklusivität hat. Im Widerspruch dazu steht dann aber die These, dass das nationale Haftungssystem nicht greife, wenn es um Kriegshandlungen und um daraus resultierende Individualansprüche gehe. Eine gewisse historische Absurdität hat auch die Argumentation zum Erfordernis verbürgter Gegenseitigkeit nach dem RBHG, als hätte ein Abkommen zwischen der hitlerdeutschen Besatzungsmacht und dem besetzten griechischen Staat geschlossen werden können und müssen. Desgleichen wird die nationalsozialistische Prägung von Gesetzen im Rahmen von Angriffskriegen ignoriert. Konsequent wird aber in Anknüpfung an die HLKO der Bestand von Individualansprüchen für die Zeit des Zweiten Weltkrieges geleugnet. Einen zukunftsweisenden Aspekt hat die Entscheidung jedoch insofern, als der Tatbestand eines Amtshaftungsanspruchs grundsätzlich bejaht und der Entwicklung des internationalen Rechts, also insbesondere des humanitären Konfliktvölkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg eine Anerkennung von Individualansprüchen offengehalten wird. Zugleich ging der BGH am Ende wohl davon aus, dass ein solcher Individualanspruch wegen völkerrechtswidriger Kriegshandlungen eher aus verschuldensabhängiger Amtshaftung als aus verschuldensunabhängiger Haftung wegen Aufopferung oder enteignungsgleichem Eingriff hergeleitet werden kann.
Die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2006
Die Entschädigungskläger, Argyris Sfountouris und seine Schwestern, legten gegen das Urteil des BGH wegen Verletzung ihrer Grundrechte, insbesondere auch von Verfahrensgrundrechten Verfassungsbeschwerde ein. Die 1. Kammer des 2. Senats des BVerfG nahm diese jedoch mangels grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung nicht an. Die Verfahrensrügen wurden pauschal mit der Begründung zurückgewiesen, dass sich die Fachgerichte eingehend mit der Sache befasst und keine unzulässige Rechtsfortbildung betrieben hätten. Im Übrigen schloss sich die Kammer weitgehend dem BGH an. Der Immunitätsaspekt wurde allerdings noch etwas vertieft. Nach geltendem Völkerrecht könne ein Staat Befreiung von der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates beanspruchen, wenn es um die Beurteilung seiner hoheitlichen Handlungen, der sog. acta iure imperii, gehe. Zu diesen Hoheitsakten gehörten auch die Übergriffe von Streitkräften des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges in Griechenland.
Die HLKO, insbesondere ihr Art. 3, begründe schon nach ihrem Wortlaut keine unmittelbaren individuellen Entschädigungsansprüche bei Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht. Zwar zeige die Entstehungsgeschichte der HLKO, dass sie für den Schutz des Einzelnen bestimmt und damit mittelbar menschenrechtsschützender Natur sei. Daraus folge aber nicht, dass sie Grundlage eines unmittelbaren, originär völkerrechtlichen Ersatzanspruchs des betroffenen Individuums gegen den Staat sei. Nur eine Kriegspartei könne gegebenenfalls zum Schadensersatz verpflichtet sein. Sekundärrechtiche Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stünden nach wie vor nur dem Heimatstaat zu. Der Einzelne werde danach nicht als Rechtssubjekt anerkannt, wenn man die neueren Entwicklungen auf verfassungs- und völkerrechtlicher Ebene außer Betracht lasse, die zur Anerkennung einer partiellen Völkerrechtssubjektivität des Individuums sowie zur Etablierung vertraglicher Individualbeschwerdeverfahren geführt hätten.
Nach Art. 135 a I Nr. 1 GG könne der Bundesgesetzgeber zwar die Entscheidung über das Ob der Gewährung staatlicher Leistungen für Verbindlichkeiten des Deutschen Reiches treffen. Daraus folge jedoch nicht, dass das Bestehen einer Verbindlichkeit vorgegeben sei. Zur Staatshaftung vermied das BVerfG die vorher kritisierte Widersprüchlichkeit im Urteil des BGH, wiederholte also nicht, dass diese durch ein spezifisch völkerrechtliches Haftungsregime überlagert sei. Stattdessen meldete es Zweifel an, ob eine solche Überlagerung der Notwendigkeit gerecht werde, die Einhaltung der Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts auch in nationalen Rechtsordnungen durch parallele Sanktionsmöglich-keiten zu sichern. Dagegen folgt es dem BGH insoweit, als es die Staatshaftung nach § 839 BGB i.V. mit Art. 131 WRV mangels verbürgter Gegenseitigkeit zwischen Deutschland und Griechenland während des Zweiten Weltkrieges ausschloss. Es bestehe keine allgemeine Regel des Völkerrechts, die die Gleichbehandlung von Ausländern und Inländern gebiete. Zwar würde es regelmäßig gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsätzen des humanitären Völkerrechts zuwiderlaufen, wenn dem rechtswidrig geschädigten Einzelnen jeder Ersatz versagt werde. So sei es aber hier nicht, weil § 7 RBHG a.F. nicht die Amtshaftung generell, sondern nur die Haftungsüberleitung auf den Staat ausschließe.
Die Anwendung des § 7 RBHG könne zwar nicht vor Ansprüchen schützen, die aus spezifisch nationalsozialistischem Unrecht folgten. Das „Geschehen in Distomo“ betreffe jedoch Vergeltungsmaßnahmen gegen die am Kampfgeschehen unbeteiligte Zivilbevölkerung, die aber während des Zweiten Weltkriegs „dem Grunde nach“ auch bei den Alliierten als erlaubt angesehen worden seien. Der „unerlaubte Exzess von Vergeltungsmaßnahmen“ könne deswegen nicht ohne weiteres als spezifisch nationalsozialistisches Unrecht qualifiziert werden, es sei denn, dass bestimmte rassenideologische Umstände ausschlaggebend gewesen seien, woran es jedoch in Distomo gefehlt habe.
Ferner wiederholte das BVerfG, dass ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff oder Aufopferung nicht bestehe. Die Entstehungsgeschichte beider Institute zeige, dass der in den §§ 74, 75 EinlALR zum Ausdruck kommende Aufopferungsgedanke nur für Sachverhalte des alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt worden sei. Diese Anspruchsgrundlage könne daher nach der maßgeblichen deutschen Rechtsordnung auf Kriegsschäden nicht angewendet werden, für die vielmehr das Völkerrecht maßgeblich sei. Art. 14 GG verlange nicht, dass für jede denkbare Form rechtswidrigen staatlichen Handelns Entschädigungsansprüche bereitgestellt würden.
Unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes wurde noch betont, dem Gesetzgeber sei es nicht versagt, zwischen einem allgemeinen, wenn auch harten und mit Verstößen gegen das Völkerrecht einhergehenden Kriegsschicksal einerseits und Opfern von in besonderer Weise ideologisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischem Unrechtsregimes zu unterscheiden. Es widerspreche deswegen nicht Art. 3 I GG, wenn Verfolgte i.S. des § 1 I BEG ebenso wie leistungsberechtigte Zwangsarbeiter nach § 11 I des Gesetzes zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ entschädigungsberechtigt seien, die Entschädigungskläger wegen des Massakers von Distomo jedoch nicht. Die Bundesrepublik Deutschland habe sich durch Reparationsleistungen im Allgemeinen und Entschädigungszahlungen auf der Grundlage bilateraler Abkommen im Besonderen ihrer völkerrechtlichen Verantwortung gestellt. Bei aller prinzipiellen Unzulänglichkeit der Wiedergutmachung menschlichen Leids durch finanzielle Mittel sei dadurch der Versuch unternommen worden, einen Zustand näher am Völkerrecht herzustellen. Dies komme auch im Zwei-plus-Vier-Vertrag zum Ausdruck, den Deutschland in dem Verständnis einer endgültigen Regelung der Reparationsfrage abgeschlossen habe.
Bei der kritischen Würdigung dieser Entscheidung erscheint es kaum akzeptierbar, dass auch Vergewaltigung und Mord im Blutrausch als hoheitliche Akte qualifiziert werden, für die das Immunitätsprinzip gilt. Das Gleiche gilt für die historische Relativierung des Kriegsverbrechens in Distomo unter Hinweis auf Kriegsverbrechen der Alliierten, nachdem Hitler-Deutschland Europa mit einem von Anfang an auf brutalen Terror gegenüber der Zivilbevölkerung setzenden Angriffskrieg überzogen hatte. Dass nicht für jede Form rechtswidrigen staatlichen Handelns ein Entschädigungsanspruch bereitgestellt sei, musste in den Ohren der überlebenden Opfer von Massakern wie Hohn klingen; auf sozialpsychologisches Feingefühl war hier verzichtet. Die Auswirkungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages auf nicht beteiligte Staaten wurden gar nicht angesprochen. Insgesamt dominierte somit die kaum rechtlich verbrämte politische Haltung, dass mit den Reparations- und Entschädigungsleistungen für im Zweiten Weltkrieg begangenes Unrecht jetzt, nach 50 Jahren, ein für allemal Schluss sein müsse, wo Deutschland doch schon so viel geleistet habe.
Es gibt allerdings auch weiterführende Überlegungen in dieser Entscheidung. Einmal wird die Anerkennung einer partiellen Völkerrechtssubjektivität proklamiert, wobei jedoch nicht gesagt ist, welche Individualansprüche sich daraus ergeben sollen. Sekundärrechtliche Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen sollen allerdings grundsätzlich nach wie vor nur dem Heimatstaat zustehen, jedenfalls für Geschehnisse des Jahres 1944. Andererseits wird die Notwendigkeit anerkannt, im Hinblick auf die regelmäßig gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsätze des humanitären Völkerrechts den Einzelnen davor zu sichern, dass ihm jeder Ersatz versagt wird. Dafür kommt in erster Linie die Staatshaftung für schuldhaftes Verhalten in Betracht, die im Fall Distomo mangels gegenseitiger Verbürgung allerdings ausgeschlossen wurde. Dagegen plädiert das BVerfG gegen eine Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff und aus Aufopferung, die nur gegenüber Zwängen des Verwaltungshandelns, nicht aber bei kriegerischer Besetzung eines anderen Staates in Betracht komme, für die das Völkerrecht die Beurteilungsmaßstäbe liefern müsse.
Die Rezeption des humanitären Völkerrechts im Kosovo-Konflikt
Schien somit die Haftungsfrage für die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg endgültig erledigt, so mussten die höchstrichterlichen Andeutungen über ein zukünftiges neues Sanktionsrecht bei Verstößen gegen das Konfliktvölkerrecht in dem Moment zum Tragen kommen, wo die Bundesrepublik Deutschland erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen von Nato-Einsätzen in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt wurde. So geschah dies dann auch im Kosovo-Konflikt, wo die Kleinstadt Varvarin, zwischen Belgrad und dem Kosovo gelegen, zum Stichwort für Schadensersatzansprüche von Kriegsopfern wurde.
Am Pfingstmontag, dem 30.05.1999, flog die Nato zur Ausübung von Druck auf die Regierung in Belgrad ohne Vorwarnung einen Angriff auf die einzige Brücke dieser Kleinstadt, die die Morava überquert. Auf dieser Brücke herrschte Marktbetrieb mit Fahrzeugen und Fußgängern. Eine bei dem Luftangriff abgeschossene Rakete traf den Mittelpfeiler der Brücke, die einstürzte und Menschen und Fahrzeuge mitriss. Nach einigen Minuten kehrte eines der Flugzeuge zurück und schoss zwei weitere Raketen auf die schon zerstörte Brücke. Insgesamt starben zehn Menschen, sechzehn wurden schwer verletzt. Kampfflugzeuge der Bundesrepublik Deutschland waren an dem Luftangriff auf die Brücke nicht beteiligt. Ob die deutschen Luftstreitkräfte logistische Leistungen erbracht hatten, war streitig. Es ging also um eine militärische Auseinandersetzung beim Zerfall Jugoslawiens und um eine drastische und bei einem Nato-Einsatz erschreckende Verletzung des humanitären Völkerrechts, die von Menschenrechtsprotagonisten vor allem in den Mitgliedsländern der Nato als Kriegsverbrechen gerügt und bekämpft wurde, auch in Deutschland.
Die deutschen Instanzgerichte wiesen die bei ihnen erhobenen Entschädigungsklagen von 35 Kriegsopfern ab, die ein Schmerzensgeld wegen der Tötung von Angehörigen und für eigene Verletzungen verlangten. Der beklagten Bundesrepublik Deutschland wurde vorgeworfen, im Rahmen der der Nato der Auswahl der Brücke von Varvarin für einen Luftangriff nicht widersprochen, sondern diesen logistisch unterstützt zu haben. Die Beklagte wehrte sich vor allem mit dem Argument, der Angriff auf die Brücke sei ihr nicht zuzurechnen.
Der BGH hatte bei seiner Revisionsentscheidung nun die Rechtsgrundsätze seiner Distomo-Rechtsprechung zugrunde zu legen. Er lehnte zunächst völkerrechtliche Individualansprüche erneut ab. Die traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts lasse es nicht zu, den Einzelnen als Völkerrechtssubjekt zu qualifizieren, sondern sorge nur für einen mittelbaren internationalen Schutz, weil der Heimatstaat nur Ansprüche für seine Staatsangehörigen geltend machen könne. Der Einzelne könne weder Feststellung des Unrechts noch Unrechtsausgleich verlangen. Diese Konzeption habe jedoch durch die Fortentwicklung und Kodifizierung des internationalen Menschenrechtsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg Korrekturen erfahren. Das Individuum sei dementsprechend zumindest als partielles Völkerrechtssubjekt anzuerkennen. Die Menschenrechte seien genuine Begünstigungen des Individuums. Das bedeute jedoch nicht, dass jede geschützte menschenrechtsbezogene Regelung auch Individualrechte einräume. Insbesondere stünden Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen weiterhin grundsätzlich nur dem Heimatstaat zu. Für jeden völkerrechtlichen Vertrag, der Individuen begünstige, sei nunmehr separat zu ermitteln, ob er individuelle Rechte begründe.
In Bezug auf Art. 3 HLKO führte der BGH aus, auch die nach dem Zweiten Weltkrieg modifizierte völkerrechtliche Sichtweise ändere nichts daran, dass sekundärrechtliche Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtwidriger Handlungen grundsätzlich nur dem Heimatstaat zustünden. Dies ergebe sich auch aus Art. 91 des ZP I von 1977, der nur eine am Konflikt beteiligte Partei, welche die Genfer Abkommen oder das Zusatzprotokoll verletzt habe, zum Schadensersatz verpflichte und damit für die Handlungen ihrer Streitkräfte verantwortlich mache. Ein individuelles Recht könne zwar im Sinne eines primären Anspruchs auf Einhaltung der Verbote des humanitären Völkerrechts bestehen. Ein individueller sekundärer Wiedergutmachungsanspruch sei jedoch nach dem Wortlaut der Norm, ihrer Entstehungsgeschichte und der Handhabungspraxis zu verneinen, da Art 91 ZP I nahezu wörtlich mit Art. 3 HLKO übereinstimme. Eine weitergehende Bedeutung sei auch bei der Erarbeitung des Zusatzprotokolls nicht ersichtlich geworden, zumal man sich bei einer Einräumung individueller Ersatzansprüche ohne weiteres an Art. 5 V EMRK hätte orientieren können.
Selbst der Entwurf der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen habe keine individuellen Ansprüche beeinträchtigter Individuen enthalten, obwohl damit das Völkergewohnheitsrecht habe kodifiziert werden sollen. Völkerrechtliche Deliktsansprüche seien demnach auch insoweit der Geltendmachung von Staat zu Staat vorbehalten. Die Spezialität des humanitären Kriegsvölkerrechts gegenüber den allgemeinen Menschenrechten lasse es nicht zu, aus Art. 34 MRK oder sonstigen Individualrechtsgewährungen eine andere Auslegung des Art. 91 ZP I abzuleiten. Bei der Kommentierung der Genfer Konventionen möge eine Tendenz zur Einräumung von Individualrechten erkennbar sein, diese Idealvorstellung sei aber noch nicht verwirklicht. Den Dokumenten der Menschenrechtskommission aus dem Jahre 2000 könnten nur zukunftsgerichtete Bestrebungen entnommen werden. Der BGH kam somit zu der Schlussfolgerung, dass die Kläger keine Aktivlegitimation für einen völkerrechtlichen Schadensersatzanspruch hätten. Auch Art. 25 S. 2 Halbs. 2 GG, nach dem die allgemeinen Regeln des Völkerrechts für die Bewohner des Bundesgebietes unmittelbar Rechte und Pflichten erzeugen, helfe nicht weiter, da sich diese Norm nicht auf Ausländer im Ausland beziehe.
Im Folgenden ließ der BGH ausdrücklich offen, ob nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen Schadensersatzanspruch aufgrund militärischer Kriegshandlungen im Ausland in Betracht komme. Ein schuldhaften Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen humanitäres Kriegsvölkerrecht verneinte er schon mit der Begründung, eine unmittelbare Unterstützung des Angriffs auf die Brücke von Varvarin durch deutsche Streitkräfte habe gefehlt. Soweit diese den Luftraum abgeschirmt hätten, habe sich dies nicht auf den konkreten Angriff auf die Brücke bezogen. Die Streitkräfte der Mitgliedstaaten hätten aus Sicherheitsgründen nur über die für ihre jeweilige eigene Beteiligung an einer Operation benötigten Informationen verfügt.
Ferner setzte sich der BGH mit § 830 BGB auseinander, der für Mittäter und Gehilfen eine gesamtschuldnerische Haftung vorsieht. Die dafür notwendige billigende Inkaufnahme eines Angriffs auf die Zivilbevölkerung verneinte der BGH jedoch. Dass die Brücke von Varvarin unter deutscher Mitwirkung in eine Zielliste für Luftoperationen der Nato aufgenommen worden sei, lasse sich nicht als Amtspflichtverletzung qualifizieren, weil insoweit ein nicht justiziabler Beurteilungsspielraum der militärischen Führungsstellen bestanden habe. Dieser werde nur bei völliger Unvertretbarkeit und offensichtlicher Völkerrechtswidrigkeit überschritten. Davon könne man aber nicht ausgehen, da zu den militärischen Zielen traditionell auch Infrastruktureinrichtungen wie Brücken gehörten. Die Beklagte habe bei ihrer Mitwirkung an der Bestimmung der Ziele darauf vertrauen dürfen, dass ein etwaiger Angriff nur unter Beachtung des Völkerrechts erfolgen werde. Eine weiterreichende Beteiligung an der militärischen Operation hätten die Kläger, die dafür die Beweislast trügen, nicht dargelegt.
Die Auffassung, dass bei Kampfhandlungen unter Verletzung von Schutzrechten der Zivilbevölkerung jeder Mitgliedstaat der Nato hafte, wenn die konkreten Verursacher des Schadens nicht zu ermitteln seien, wies der BGH zurück. Der Staat hafte aufgrund der personalen Konstruktion der Amtshaftung nur in dem gleichen Umfang, wie der Amtsträger haften würde, wenn es die Schuldübernahme nach Art. 34 GG nicht gäbe, also für schuldhaftes Fehlverhalten eines deutschen Amtsträgers. Hoheitliche Handlungen von Streitkräften anderer Staaten seien der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen nicht zuzurechnen.
Der BGH hat damit die Linie der Distomo-Entscheidungen fortgeführt. Dass das humanitäre Völkerrecht Konsequenzen für die Anerkennung des geschützten Individuums als Völkerrechtssubjekt haben muss, wird allerdings nunmehr restriktiv auf den bloßen Anspruch bezogen, dass die Regeln des Völkerrechts eingehalten werden, und nicht auf einen Wiedergutmachungsanspruch. Die völkerrechtliche Ableitung eines solchen Anspruchs wird vielmehr nach wie vor als Zukunftsmusik abgetan. Weitergehende Menschenrechtsgewährleistungen lässt der BGH zudem an der Spezialität des Kriegsvölkerrechts scheitern. Dagegen hält er daran fest, dass eine Staatshaftung für völkerrechtswidrige militärische Einsätze der deutschen Streitkräfte nach § 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG als Anspruch aus nationalem Recht in Betracht kommt. In seiner Distomo-Entscheidung hatte der BGH insoweit bereits Amtspflichten der Militärpersonen bejaht und war nur mangels verbürgter Gegenseitigkeit zu einer Abweisung der Staatshaftungsklage gelangt. Die Varvarin-Entscheidung verneinte nun lediglich eine weite Zurechnung hinsichtlich des Handelns ausländischer Militärpersonen, also eine zu geringe Verstrickung der deutschen Streitkräfte in den konkreten Luftangriff auf die Brücke von Varvarin. Insgesamt muss also nach der Rechtsprechung des BGH bei Völkerrechtsverletzungen durch Angehörige der deutschen Streitkräfte in Zukunft mit Individualansprüchen der Opfer nach nationalem Recht gerechnet werden.
Bislang hat das BVerfG noch nicht über die Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil entschieden, obwohl bald fünf Jahre seither vergangen sind. Eine verfassungsgerichtliche Korrektur ist jedoch nicht zu erwarten. Der Tatbeitrag der Bundeswehr zu dem tödlichen Bombardement auf die Brücke war gering, da die Aufnahme in die Zielliste der Nato noch keineswegs ein Kriegsverbrechen indizierte. Die konkreten Umstände des Luftangriffs standen damit noch nicht fest. Schon eine Vorwarnung, wie sie nach Art. 57 II Buchst. c ZP I geboten war, hätte genügt, die Menschenopfer auf der Brücke von Varvarin zu vermeiden. Die Bundesrepublik Deutschland kann auch nicht die Haftung für alle Opfer rechtswidriger und schuldhafter Nato-Operationen übernehmen, wie dies durch eine gesamtschuldnerische Haftung geschähe. Im Rahmen des Nato-Bündnisses spielt sie nur eine untergeordnete Rolle, da sie praktisch selbst nur als politische Gehilfin der führenden Westmächte eingestuft werden kann. Für die anderen Nato-Partner als ihre Gehilfen einzustehen, würde diesen realen politischen Verhältnissen nicht gerecht. Aber auch wenn man insofern die Argumentation des BGH akzeptiert, bleibt es bei weiterweisenden Rechtsgrundsätzen zum nationalen Recht, das erstmals in der Rechtsgeschichte eine geeignete Sanktion für eigene Völkerrechtsverletzungen der deutschen Streitkräfte als möglich erscheinen lässt.
Die Resonanz in der Literatur
Diese Rechtsprechung ist in der Literatur nicht ohne Resonanz geblieben. Einmal gibt es eine Linie, die nicht auf nationales Recht ausweichen will, sondern aus Völkergewohnheitsrecht inzwischen Ansprüche von Individuen gegen Staaten herleitet. Was jedoch die Staatshaftung angeht, soll exemplarisch ein grundlegender Aufsatz von Dutta angeführt werden. Im Ausgangspunkt geht dieser Autor auf einen Satz von Randelzhofer ein, der Versuch, mit dem BGB den Krieg zu domestizieren wirke so, „als zöge man mit dem Schmetterlingsnetz aus, um einen Drachen zu erlegen.“ Dutta hält dem entgegen, im Hinblick auf die trotz der in Art. 25 S. 2 Halbs. 2 GG proklamierten Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung sehr restriktive völkerrechtliche Praxis der deutschen Gerichte sie es nicht verwunderlich, dass das Staatshaftungsrecht eine neue Funktion übernehme. Völkerrechtlich sei in jedem Fall eine innerstaatliche Individualhaftung nicht ausgeschlossen.
Für das Amtshaftungsstatut gelte jeweils das Recht des in Anspruch genommenen Staates, da insoweit die engste Verbindung mit dem amtshaftungsrechtlichen Sachverhalt bestehe, also unabhängig vom Handlungs- und Erfolgsort. Grundsätzlich sei auch das Amtshaftungsrecht auf bewaffnete Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte anwendbar.
Nach Dutta ergibt sich aus der Entscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit und das Rechtstaatsprinzip eine effektive Sanktionierung von Völkerrechtsverstößen durch das Amtshaftungsrecht. Die traditionelle Mediatisierung des Individuums durch seinen Staat im Völkerrecht mache das Staatshaftungsrecht zum Auffangtatbestand, da das rechtswidrig geschädigte Individuum nicht ohne angemessenen Ausgleich seiner Schäden bleiben dürfe. Die Anerkennung von Amtshaftungsansprüchen wegen Völkerrechtsverstößen deutscher Streitkräfte gefährde auch nicht die Kompetenz der Bundesregierung für die äußeren Angelegenheiten, insbesondere nicht bei Konstellationen offensichtlicher Verstöße. Das Amtshaftungsrecht müsse auch den Soldaten Schutz gewähren, denen sonst die Eigenhaftung drohe. Die Vorschriften des humanitären Völkerrechts seien auch zugunsten der vom Konflikt unmittelbar betroffenen Individuen drittbezogen. Ein nicht justiziabler Beurteilungsspielraum sei jedenfalls im Hinblick auf offensichtliche Völkerrechtsverstöße von den Nato-Vertragsstaaten nicht gewollt. Die Zurechnung von Handlungen eigener Soldaten sei unproblematisch, die Verantwortlichkeit für Handlungen ausländischer Soldaten, komme nur in Betracht, wenn die Bundesrepublik als lead nation bei einem multinationalen Auslandseinsatz die uneingeschränkte Befehlsgewalt habe. Eine Individualhaftung für Völkerrechtsverstöße aus Amtshaftung sei selbst dann gerechtfertigt, wenn in Zukunft auch eine völkerrechtliche Individualhaftung anerkannt werde.
Die Zeiten ideologisch (wie etwa von Randelzhofer) als luftig apostrophierter Friedensziele eines humanitären Haftungsrechts sind danach vorbei. Auch die militärischen Interventionen der Nato stehen unter humanitärem Erfolgsdruck. Es besteht kein Grund mehr, das Staatshaftungsrecht für Völkerrechtsverstöße deutscher Soldaten für unanwendbar zu erklären. Militärische Beurteilungsspielräume wird man zwar anerkennen müssen. Der Anwendungsbereich des Staatshaftungsrechts sollte aber nicht auf von vornherein offensichtliche Völkerrechtsverstöße begrenzt werden, da die Haftung sonst in der Praxis leicht in der Arbeitsteiligkeit und Hierarchisierung militärischer Organisationen untergehen könnte. Es muss genügen, dass sich bei nachträglicher Analyse der Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht als eine für jede professionelle Militärperson ohne Weiteres erkennbare, von den militärischen Zielen her gänzlich überflüssige Verletzung von Leib und Leben der Opfer darstellt.
Die Schlussfolgerungen für Völkerrechtsverstöße im Afghanistan-Konflikt
Das Bombardement auf Zivilisten in der Nähe von Kunduz im September 2009 im Auftrag deutscher Streitkräfte ist die nächste Station der Entwicklung des humanitären Völkerrechts und seiner Flankierung durch nationales Staatshaftungsrecht. Der Afghanistan-Konflikt unterscheidet sich jedoch erheblich von den bisherigen Konfliktlagen und hat eine längere Geschichte.
Die Vorgeschichte
Nach der Zerstörung der Twin Towers in New York am 11.9.2001 mittels entführter Flugzeuge durch islamistische Terroristen, denen fast 3.000 Menschen zum Opfer fielen, erklärte die Taliban-Regierung in Afghanistan ihre Sympathie mit den Terroristen und ihre Unterstützungsbereitschaft. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete demgegenüber am 12.9.2001 die Resolution 1368 (2001), in der die Anschläge als eine Bedrohung des internationalen Friedens qualifiziert und auf der Basis des Art. 51 der UN-Charta das Recht der USA zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln proklamiert wurden. Mit der weiteren Resolution 1373 (2001) rief der Sicherheitsrat die UN-Mitgliedstaaten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus auf. Am 4.10.2001 erklärte der NATO-Rat die Beistandsverpflichtung aus Art. 5 des NATO-Vertrages für gegeben. Am 16.11.2001 beschloss der Deutsche Bundestag unter Bezug auf Art. 51 der UN-Satzung, Art. 5 des NATO-Vertrages und Art. 24 II GG zur Gewährleistung des darin vorgesehenen Systems kollektiver Sicherheit die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an den militärischen Operationen der USA.
Die von den USA geführte Militäraktion Operation Enduring Freedom (OEF) führte rasch zum Sturz des Taliban-Regimes und zur Besetzung Afghanistans. Aufgrund der Petersberger Konferenz vom 27.11. bis 5.12.2001, an der die verschiedenen politischen und ethnischen Gruppen Afghanistans teilnahmen, kam es dann zur Wiederherstellung staatlicher Strukturen in Afghanistan und zur Einsetzung der Regierung Karsai unter begleitenden Sicherungsleistungen der internationalen Kräfte sowie zur Durchführung von demokratischen Wahlen. Den Taliban gelang es jedoch, sich nach ihrer Niederlage unter Rückzug auf Pakistan zu reorganisieren und im Laufe der Jahre zunehmend durch Anschläge auf das zivile Leben die politische Stabilität in Afghanistan zu untergraben.
Nachdem die Bundesregierung am 21.12.2001 die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan beschlossen hatte und der Bundestag ihr gefolgt war, sollte die Bundeswehr sich zunächst an der Gewährleistung der Sicherheit im Gebiet von Kabul und Umgebung beteiligen. Die Ermächtigung hierfür war bis zum 20.6.2002 befristet. Zudem beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland aufgrund entsprechender Ermächtigungen des Bundestags an der zunächst von Großbritannien geführten International Security Assistance Force (ISAF). Das Mandat der UN für die ISAF wurde mit Resolution des Sicherheitsrats vom 13.10.2003 (Resolution 1510/2003) auf ganz Afghanistan ausgeweitet, um demokratische Wahlen zu sichern, die dann auch im Jahre 2005 stattfanden, und um den Einfluss der Regierung in Kabul auf das ganze Land auszudehnen sowie damit insgesamt die politische Stabilität in Afghanistan zu gewährleisten. Nach laufender Verlängerung der Einsatzfristen durch die UN, die NATO und den Deutschen Bundestag wurde der Schwerpunkt der militärischen Beteiligung zunehmend auf die ISAF verlagert. Unter dem Eindruck einer Entscheidung des BVerfG erklärte die Bundesregierung Ende 2008 schließlich förmlich, dass sie sich nicht mehr an der OEF beteiligen und ihren Einsatz im Rahmen der ISAF verwirklichen wolle.
Die völkerrechtliche Kritik an der Berechtigung zum Afghanistan-Einsatz stützte sich vor allem darauf, dass eine Beteiligung der Talibanregierung an dem Angriff auf die Twin Towers ebenso wenig wie an der Aufenthaltsgewährung für Osama bin Laden nachgewiesen sei, ferner die UN-Resolutionen keine Ermächtigung zur militärischen Durchsetzung eines Regimewechsels darstellten und der NATO-Einsatz zudem für einen Wiederaufbau Afghanistans und die Schaffung demokratischer Strukturen in Afghanistan ungeeignet und unzulässig sei.
Das Einsatzgebiet der bewaffneten deutschen Streitkräfte war nach der UN-Resolution 1510/2003 auf die Region Kunduz erstreckt worden. In Form eines zivilen und militärischen Einsatzes sollten die deutschen Soldaten dort an von den USA geführten Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams – PRT) teilnehmen. Ein derartiges PRT sollte neben Militärpersonen auch Diplomaten, Polizeiausbilder und Wiederaufbauhelfer umfassen, die mit den lokalen Autoritäten zusammenarbeiten sollten. Die Bundesregierung erklärte noch im Jahre 2003, dass Kunduz der dafür am besten geeignete Ort sei. Grundlage des ISAF-Einsatzes wurde im Jahre 2007 die Resolution des UN-Sicherheitsrats 1776/2007, die die Unterstützung Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit beinhaltete.
Im Laufe der letzten zehn Jahre gelang es den Einsatzkräften jedoch nur punktuell, im Einklang mit den lokalen Autoritäten Wiederaufbauhilfe zu leisten. Eine breitere interkulturelle Verständigung kam jedoch nicht zustande. Auch die deutschen Soldaten lebten, je länger der Einsatz der Bundeswehr dauerte, zunehmend isoliert und in der Furcht vor Attentaten. Den Taliban gelang es allmählich, sich in Afghanistan zu reorganisieren und die soziale Sicherheit durch Anschläge zu unterminieren. Am meisten litt darunter die afghanische Zivilbevölkerung in den Städten und den Dörfern, die immer stärker von den Taliban unter Druck gesetzt wurde, aber auch vielfach erleben musste, dass in wirklichen oder vermeintlichen Notwehrsituationen die ausländischen Einsatzkräfte an den Konflikten unbeteiligte Zivilisten töteten.
Das war der Grund dafür, dass sich die NATO-Mitgliedstaaten Regeln für ihre Operationsführung gaben. Sie erstellten Vorgaben für die gemeinsame Operationsführung, die in Rules of Engagement (ROE) verankert wurden und Verhaltensregeln für den militärischen Einsatz und die tunlichste Schonung der Zivilbevölkerung enthielten. Ferner wurden Standard Operating Procedures (SOP) für typische Konfliktabläufe entwickelt. Zudem gab der jeweilige ISAF-Kommandeur sog. taktische Direktiven (tactical directives).
Die Bundeswehr war vor allem in dem Wiederaufbauteam Kunduz engagiert. Dieses sollte Anfang mit den afghanischen Behörden und Sicherheitskräften zusammenarbeiten, um die Bevölkerung der beiden Provinzen Kunduz und Takhar mit insgesamt etwa zwei Millionen Menschen zu schützen. Die Kommandostruktur war durch ein duales System geprägt. Operativ unterstand die Dienststelle dem ISAF-Kommandeur, zu diesem Zeitpunkt dem US-General Stanley McChrystal. Truppendienstlich unterstand es dem Einsatzführungskomman-do der Bundeswehr in Geltow bei Potsdam.
Während die Sicherheitslage vorher überwiegend durch drohende Selbstmordattentate gekennzeichnet war, kam es ab Ende April in der Provinz Kunduz erstmals zu militärischen Auseinandersetzungen mit Talibankräften, die den militärgeschichtlich geläufigen Kampfformen nahekamen, zu Hinterhalten, Feuergefechten und Sprengstoffanschlägen. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg, also nach fast 64 Jahren, fiel ein deutscher Soldat am 29. April 2009 in einem Gefecht mit der Waffe in der Hand. Im Jahr 2009 fielen oder verunglückten in Afghanistan insgesamt sieben deutsche Soldaten, während über 317 US-amerikanische Soldaten und insgesamt aus den westlichen Staaten 521 Soldaten starben. Die Zahl der afghanischen Toten war um ein Vielfaches höher. Ab Mai 2009 musste die ISAF-Truppe mit ihren Wiederaufbauteams bei Verlassen ihrer Lager stets mit Angriffen rechnen, bei denen selbstgebaute Sprengsätze und Panzerfäuste eingesetzt zu werden drohten. Die Talibankräfte missbrauchten aber auch rücksichtslos die jeweilige Zivilbevölkerung, indem sie sich unter diese mischten, ihre Waffen verbargen und uneingeschränkt afghanische Opfer bei ihren Anschlägen in Kauf nahmen.
Deswegen erließ der US-General Stanley McChrystal am 6. Juli 2009 als Kommandeur der ISAF eine neue taktische Direktive zum Schutz der Zivilbevölkerung. Darin hieß es, dass der Kampf in Afghanistan nicht durch Tötung einer möglichst großen Anzahl von Talibankräften erfolgreich zu gestalten sei, sondern dass die Insurgenten von der afghanischen Zivilbevölkerung zu trennen seien. Die ISAF-Truppen müssten die Zivilbevölkerung respektieren und in ihrer Notlage schützen, um sie selbst für den Einsatz der ausländischen Soldaten zum Zwecke des Wiederaufbaus und der Sicherheitsgewährleistung in Afghanistan zu gewinnen. Deswegen sei der Einsatz militärischer Gewalt, vor allem in Form von Luftnahunterstützung in bewohnten Gebieten und dort, wo es zu Opfern von Zivilisten kommen könne, genau zu prüfen und auf das Nötigste zu beschränken. Damit wurde dem Gedanken Rechnung getragen, dass mit Bombenangriffen die afghanische Bevölkerung nur gegen die ISAF-Truppen aufgebracht würde.
Im August 2009 und Anfang September versuchten die Talibankräfte, in bestimmten Phasen die Hauptverbindungsstraßen in der Provinz Kunduz zu kontrollieren. Am 25. August 2009 wurde in Kabul ein Tanklastwagen in die Luft gesprengt, wobei 40 Personen getötet wurden. Auch in Kandahar kam es zu einem solchen Attentat, bei dem 39 Menschen starben. Davon war ganz überwiegend die Zivilbevölkerung betroffen. Dementsprechend vergrößerten sich auch in der Provinz Kunduz die Sorge und die Furcht vor derartigen Angriffen. Am 3. September 2009 geriet nördlich von Kunduz eine Kompanie mit Schützenpanzern in einen Hinterhalt, bei dem drei deutsche Soldaten verwundet wurden. Einer davon musste wegen der Lebensbedrohlichkeit seiner Verwundung mit Hubschrauber ausgeflogen werden. Das gesamte Geschehen bis zu dem Bombardement bei Kunduz ist historisch unstreitig und ergibt sich nahezu vollständig aus vorhandenen Dokumenten und Berichten.
Das Bombardement von Kunduz
Dagegen ist der Tatbestand des Bombardements vom 3. September 2009 noch nicht abschließend geklärt. Eine Klage afghanischer Opfer ist erhoben. Eine Beweisaufnahme hat noch nicht stattgefunden. Mit diesem Vorbehalt soll jedoch das Geschehen wenigstens skizziert werden, zu dem Film- und Tondokumente sowie zahlreiche Untersuchungsberichte vorliegen, die sich aber in Einzelheiten unterscheiden.
Der Ausgangspunkt ist jedoch klar. Am Vormittag des 3. September 2009 nach afghanischer Zeitrechnung brachen zwei Tanklaster mit Treibstoff auf, um über Kunduz nach Kabul zu fahren. Die Ladung war als Nachschub für die NATO und die ISAF bestimmt. Die Laster wurden jedoch von bewaffneten Talibankräften abgefangen. Die beiden Lastwagen sollten von ihnen in ein Versteck auf der anderen Seite des Kunduzflusses gebracht werden. Dafür mussten die Taliban mit den Lastwagen den Fluss durchqueren. Dafür wollten sie eine ihnen bekannte Übergangsstelle an einer Sandbank in der Mitte des Flusses nutzen. Dort blieben sie dann im Schlamm stecken. Das nächste Dorf war Omar Khel. Die Fahrzeuge waren, 7 km Luftlinie vom deutschen Feldlager entfernt, manövrierunfähig. Die Taliban entschieden sich offenbar dafür, die Zivilbevölkerung zum Abzapfen des Treibstoffes einzuschalten. In den Abendstunden bildete sich dann auf der Sandbank rund um die Laster ein Menschenauflauf. Zum Abtransport des Treibstoffs in Kanistern wurden teilweise Menschenketten gebildet. Insgesamt waren an dem Geschehen im Laufe der Zeit Hunderte von Personen beteiligt.
Das Aufnahmesystem der Task Force 47, einer selbständigen Einrichtung zur Sammlung von Informationen, lieferte gute Videobilder, die dann auch dem dort anwesenden Kommandeur der deutschen Streitkräfte, Oberst i. G. Klein, zur Verfügung standen. Auf dessen Anforderung trafen dann zwei F-15-Kampfjets der 335. US-Jagdfliegerstaffel ein. Einer der Piloten war ein erfahrener Kampfflieger. Die beiden Piloten nahmen mit dem Gefechtsstand der Task Force 47 Funkkontakt auf. Es kam zu einer laufenden Kommunikation. Die Korrespondenz wurde wort- und minutengenau aufgezeichnet. Ferner wurde eine Rover-Verbindung mit dem Gefechtsstand der Task Force 47 hergestellt, mit einer Technik, durch die Luftbilder in Echtzeit in die Leitzentrale übertragen und dort auf eine Leinwand projiziert wurden, zudem mit der Möglichkeit, die Bilder zu rastern.
Den Piloten wurde zunächst Anweisung gegeben, sich auf einen Bombenabwurf vorzubereiten. Diese konnten eine große Menschenansammlung erkennen, wie sie für Taliban-Aktionen untypisch war. Sie schlugen deswegen insgesamt fünfmal eine Warnung in Form einer „show of force“ durch einen Tiefflug vor und erwogen intern auch, für diesen Luftangriff die „Rote Karte“ zu ziehen. Die Piloten konnten auch keine unmittelbare Feindberührung erkennen. Dementsprechend schlugen sie auch vergeblich die Einschaltung einer höheren Instanz vor. Die Einsatzzentrale mit dem deutschen Kommandeur bestand jedoch aus Eilgründen auf einem Luftangriff, der dann auch durchgeführt wurde.
Um 1.49 Uhr in der Nacht warfen die Waffensystemoffiziere der beiden Kampfjets zwei 500-Pfund-Bomben auf die Laster ab. Es wurde taghell, zwei Feuerbälle dehnten sich aus und trafen eine Vielzahl von Personen. Ein erheblicher Teil von ihnen verbrannte, teilweise ohne irgendeine Spur zu hinterlassen, teilweise zu Asche. Mit brennenden Kleidern warfen sich viele Menschen in das Wasser des Flusses Kunduz. Körperteile wurden noch in einer Entfernung von 500 bis 600 Metern gefunden. Andere Körperteile schwammen im Fluss. Den entfernter Stehenden gelang es wegzulaufen. Die Angaben über die Anzahl der Getöteten schwankten auch nach den dann durchgeführten verschiedenen Untersuchungen. Sie variierten zwischen insgesamt 14 und 142 Toten. Der Annual Report on Protection of Civilian in Armed Conflict der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (Unama), Human Rights Kabul, über das Jahr 2009 kam zu dem Schluss, dass der Luftangriff nahe Omar Khel vom 4. September 2009 vermutlich das Leben von 74 Zivilisten, darunter vielen Kindern gefordert habe.
Die internationale Öffentlichkeit wertete dieses Bombardement wie auch der ISAF-General McChrystal sehr kritisch. Aus der Bundesregierung gab es höchst unterschiedliche Bewertungen, bis der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg schließlich den Angriff als militärisch nicht angemessen qualifizierte. Die strafrechtliche Ermittlung gegen Oberst i. G. Klein führte zu einem Einstellungsbescheid des Generalbundesanwalts, weil von keinem Vorsatz auszugehen sei.
Die Anwendung der Rechtsgrundsätze der Grundsätze des humanitären Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung auf das Bombardement von Kunduz
Bei dem Luftangriff auf die beiden Tanklaster, die im Kunduz-Fluss stecken geblieben waren, und auf die Personen um ihn herum handelte es sich nicht um einen internationalen bewaffneten Konflikt, da es weder um einen Konflikt zwischen Staaten geht noch um eine Aktion im Rahmen militärischer Präsenz ohne Zustimmung der afghanischen Regierung. Vielmehr waren die Nato-Streitkräfte aufgrund UN-Beschlusses mit ausdrücklicher Zustimmung der Regierung Karsai im Lande, um diese beim Wiederaufbau und in Fragen der Sicherheit zu unterstützen. Es ging also um einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt, auf den primär das ZP II und, wie dargelegt, hinsichtlich der weiteren Ausdifferenzierung das ZP I anwendbar ist. Nach Art. 13 III ZP II genießen Zivilpersonen Schutz, sofern und solange sie nicht an Feindseligkeiten teilnehmen, also keine Kämpfer sind und sich auch nicht an Feindseligkeiten anderer beteiligen. Soweit es sich erweisen sollte, dass in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 die von Armut geplagten Einwohner der umliegenden Dörfer erschienen waren, um Treibstoff abzuzapfen oder ihre Schaulust zu befriedigen, waren sie nicht an Feindseligkeiten beteiligt. Dafür spricht das auf den Videoaufnahmen erkennbare Kommen und Gehen vieler Menschen sowie der Einsatz von für militärische Zwecke gänzlich ungeeigneten Fahrzeugen wie Traktoren.
Art. 51 IV Buchst. c des ZP I verbietet – wie dargelegt – Kampfmittel, deren Wirkungen nicht entsprechend den Vorschriften über den Schutz der Zivilbevölkerung begrenzt werden können und die daher militärische Ziele und Zivilpersonen unterschiedslos treffen. Art. 51 V Buchst. b des ZP I verbietet zudem einen Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen. Art. 57 II Buchst. a Unterabsatz i des ZP I gebietet weiterhin, alles praktisch Mögliche zu tun, um sicherzugehen, dass nicht Zivilpersonen zum Angriffsziel werden, so dass eine Aufklärung einer zweifelhaften Konfliktsituation vor einem Angriff notwendig ist. Schließlich muss nach Art. 57 II Buchst. c des ZP I Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, eine wirksame Warnung vorausgehen, es sei denn, die gegebenen Umstände erlauben dies nicht. Bei dem Bombardement auf die Tanklaster im Kunduz-Fluss könnten diese Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt worden sein, von der versäumten Aufklärung über die wahrnehmbaren Zivilpersonen über die Unterlassung einer Vorwarnung durch einen Tiefflug, der das Bombardement angekündigt und vorher die Zivilbevölkerung in die Flucht getrieben hätte, bis zu dem unterschiedslosen und unverhältnismäßigen Angriff, dem keine erkennbare Feindberührung mit dem deutschen Feldlager zugrunde lag. Im Übrigen hätte im Hinblick auf die alliierte Lufthoheit eine kämpferische Aktion gegen das deutsche Feldlager noch durch spätere Bombardements vereitelt werden können.
Einen primären völkerrechtlichen Individualanspruch hat der BGH in seiner Varvarin-Entscheidung nur insofern anerkannt, als der Einzelne einen Anspruch auf Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts hat. Dagegen ist der sekundärrechtliche völkerrechtliche Anspruch auf Wiedergutmachung durch den BGH und das BVerfG bisher unter Hinweis auf die Mediatisierung dieser Individualansprüche durch die Heimatstaaten bisher abgelehnt worden, obwohl in der völkerrechtlichen Literatur die Gegenauffassung zunehmend Anhänger findet. Stattdessen hat die deutsche Rechtsprechung Ansprüche nach nationalem Recht erwogen. Mit recht dürftiger und allzu knapper Begründung hat das BVerfG in seiner Distomo-Entscheidung allerdings Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff und aus Aufopferung abgelehnt, also verschuldensunabhängige Ansprüche wegen rechtswidriger Verstöße gegen das Völkerrecht. Eine grundrechtsspezifische Prüfung hat nicht stattgefunden. Solche Ansprüche kämen nur gegenüber Opfern von Verwaltungshandeln in Betracht, meinte das BVerfG. Eine bessere Begründung könnte im konkreten Fall darin bestehen, dass jedenfalls bei einer militärischen Tätigkeit in einem kulturell anders geprägten Lande, dessen Regierung den Truppeneinsatz gewünscht oder akzeptiert hat, interkulturelle Missverständnisse drohen, die die Maßstäbe für objektive Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit nach der Rechtsordnung des Heimatstaats der ausländischen Streitkräfte in Frage stellen, und dass deswegen nur eine verschuldensabhängige Staatshaftung in Betracht kommt. Konzentriert man sich somit im Anschluss an das BVerfG und den BGH auf die Amtshaftung nach § 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG, dann bleibt nur noch deren Tatbestand zu prüfen.
Die verschuldensabhängige Staatshaftung
Nach Art. 34 GG haftet der Staat anstelle des Beamten, soweit dieser in Ausübung des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes handelt. Dies stellt eine befreiende gesetzliche Schuldübernahme dar, die die persönliche Haftung des Beamten ausschließt. § 839 BGB ist die haftungsbegründende, Art. 34 GG die haftungsverlagernde Norm. Es ist somit an die schuldhafte amtspflichtwidrige Handlung einer bestimmten Person anzuknüpfen. Art. 34 GG erstreckt die Haftung des Staates auf die Pflichtverletzungen aller Personen, die in Ausübung eines ihnen anvertrauten öffentlichen Amtes handeln. Handelnde Personen können somit nicht nur Beamte einer Körperschaft sein, sondern im Sinne des haftungsrechtlichen Beamtenbegriffs auch Personen, die anderweit zur Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben herangezogen werden. Für Soldaten, die im Rahmen von Militäreinsätzen tätig sind, kann dies ebenso wenig zweifelhaft sein wie etwa für den Einsatz in einem Sanitätszentrum der Bundeswehr.
Amtspflicht ist jede persönliche Verhaltenspflicht des Amtsträgers bezüglich seiner Amtsführung. Den Amtsträger trifft allgemein die Pflicht zu gesetzmäßigem Verhalten bei der Wahrnehmung seiner öffentlichen Aufgaben. Er hat jede Form einer unerlaubten Handlung durch Verletzung der Rechtsgüter des § 823 I BGB zu vermeiden. Bei militärischen Auseinandersetzungen kann sich allerdings eine Rechtfertigung von Angriffen auf Leib und Leben von Zivilpersonen aus dem Kriegsvölkerrecht ergeben. Handelt es sich jedoch bei einem militärischen Eingriff wie dem Luftangriff bei Kunduz um einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, soweit dieses Zivilpersonen vor unterschiedslosen und unverhältnismäßigen Angriffen ohne Vorwarnung schützen will, ist eine Rechtfertigung ausgeschlossen und eine Amtspflichtverletzung zu bejahen.
Die Amtspflicht darf nicht nur gegenüber der Allgemeinheit oder dem Staat bestehen, wenn daraus ein individueller Schadensersatzanspruch hergeleitet werden soll. Notwendig ist also ein auf den Schutz Dritter gerichteter Zweck der Amtspflicht. Im vorliegenden Fall geht es vor allem um den Schutz des Lebens der von den Luftangriffen betroffenen Zivilpersonen. Dieser Schutzzweck ist aus den konfliktvölkerrechtlichen Normen zu entnehmen. Art. 3 des IV. Genfer Abkommens sowie Art. 51 und 57 des ZP I bezwecken den mittelbaren Schutz einzelner Zivilpersonen vor unterschiedslosen und unverhältnismäßigen tödlichen Angriffen ohne jede Vorwarnung. In jedem Fall ist also eine Schutzrichtung zugunsten Dritter jedenfalls gegenüber schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht anzunehmen, weil nur so die Völkerrechtsentwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem realisierbaren Wiedergutmachungsanspruch aufgrund Verschuldens sanktioniert werden kann. Der völkerrechtlich gebotene Drittschutz muss sich dementsprechend auch auf Ausländer erstrecken, die bei einem Einsatz der Bundeswehr out of area als Zivilpersonen betroffen sind. Der nach § 839 BGB erforderliche Drittschutzcharakter ist somit zu bejahen. Das hat der BGH inzident schon in seiner Distomo-Entscheidung anerkannt, wo die Tatbestandsmäßigkeit der Amtspflichtverletzung bejaht wurde und die Klage nur an der fehlenden Gegenseitigkeit der Verbürgung der Staatshaftung scheiterte.
Das nach § 839 BGB erforderliche Verschulden des Amtsträgers muss sich auf den haftungsbegründenden Tatbestand beziehen. Der den Luftangriff anordnende deutsche Kommandeur, Oberst i. G. Klein, hat fahrlässig gehandelt, wenn er gem. § 276 II BGB die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Dafür ist ein objektivierter Sorgfaltsmaßstab zugrunde zu legen, wie ihn ein sorgfältiger Durchschnittssoldat angewandt hätte. Insoweit sind die in der Nacht vom 3. zum 4.9.2009 gemachten Luftaufnahmen daraufhin auszuwerten, ob ein von unbegründeter oder gar panischer Furcht freier Kommandeur Zweifel daran haben konnte, dass mit den seit Stunden steckengebliebenen Tanklastwagen und dem in Kanistern abgeholten Treibstoff kein unmittelbarer Angriff auf das sieben Kilometer Luftlinie entfernte Feldlager der deutschen Soldaten zu führen war, schon gar nicht zur Nachtzeit. Eine unmittelbare Feindberührung („troops in contact“) war nicht zu erkennen, wie auch später Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg eingeräumt hat. Es wird zu bedenken sein, ob nicht eine Vielzahl von Anhaltspunkten für die Präsenz zahlreicher Zivilpersonen sprach, insbesondere die für einen Militäreinsatz atypischen Fahrzeuge einschließlich Traktoren, das Kommen und Gehen in dem Gelände und die Anwesenheit von Kindern.
Unstreitig hat der Kommandeur sogar die Vorbehalte des in Afghanistaneinsätzen erfahrenen Kampfjetpiloten gegen den Bombenabwurf unbeachtet gelassen, der nach seinem Eindruck von dem nächtlichen Geschehen mehrfach und dringlich eine „show of force“ empfohlen und die Einschaltung einer höheren militärischen Instanz zu bedenken gegeben hatte. Insoweit wird zu prüfen sein, ob der Kommandeur unter grobem Sorgfaltsverstoß den unterschiedslosen und unverhältnismäßigen Bombenangriff angeordnet hat, ohne eine Vorwarnung zu geben oder eine höhere Instanz einzuschalten.
Die Beweisaufnahme in dieser Sache kann die bundesdeutsche Justiz nicht allein mit deutschen Zeugen und Dokumenten durchführen, da das Bombardement von Kunduz internationale Resonanz erfahren hat, überwiegend kritische. Auch die afghanischen Opfer und ihre Angehörigen sind bereit, vor deutschen Gerichten auszusagen. Der Immunitätsgrundsatz wird bei einer Befassung der bundesdeutschen Justiz keine Rolle mehr spielen. Auch die zunehmende internationale Solidarität zur Umsetzung des humanitären Völkerrechts mittels Sanktionen wird sie tragen.
Die Zurechnung zur Bundesrepublik Deutschland
Eine Zurechnung des militärischen Handelns in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 zu den Vereinten Nationen scheidet schon deswegen aus, weil sich die UN auf Resolutionen des Sicherheitsrates beschränkt und nur die Ermächtigung zu einem entsprechenden Streitkräfteeinsatz erteilt haben. Eine Zurechnung zur Islamischen Republik Afghanistan kann auch aus deren genereller Einwilligung in eine Truppenstationierung nicht hergeleitet werden. Sie käme nur dann in Betracht, wenn die Bundeswehr in Ausübung hoheitlicher Befugnisse Afghanistans gehandelt hätte. Davon kann aber keine Rede sein, da die Bundeswehr wie die anderen NATO-Streitkräfte nur Hilfe- und Wiederaufbauleistungen erbringen, nicht aber afghanische Hoheitsgewalt entfalten sollte.
Eine Zurechnung zur Nato würde wiederum voraussetzen, dass die Truppen der verschiedenen beteiligten Mitgliedstaaten Teil eines einheitlichen Streitkräftekontingents der Nato gewesen wären. Die Wiederaufbauteams wurden jedoch von der jeweiligen Leitnation eigenständig geführt, im Norden Afghanistans von der Bundeswehr. Maßgeblich ist jeweils, ob eine effektive Kontrolle durch die Nato selbst praktiziert wird, die Mitgliedstaaten also ihre Weisungs- und Kontrollbefugnisse über ihre Truppen auf die Nato übertragen haben. Auch die International Law Commission (ILC) geht hinsichtlich der Zurechnungskriterien davon aus, dass eine Zurechnung zu einer internationalen Organisation nur in Betracht kommt, wenn diese die effektive Kontrolle über das militärische Handeln inne hat. Das Handeln als Organ eines Staates oder als Organ oder Vertreter einer internationalen Organisation, das einer anderen internationalen Organisation zur Verfügung gestellt ist, wird nach internationalem Recht als ein Akt der anderen Organisation angesehen, wenn diese die effektive Kontrolle über dieses Handeln hat.
Die Nato, also die ISAF-Führung unter General McChrystal, hatte jedoch keineswegs die effektive Kontrolle über das militärische Handeln in Kunduz in der Nacht vom 4.9.2009. Vielmehr war aufgrund der Verantwortlichkeit der deutschen Streitkräfte für die Nordregion diesen und damit dem den Befehl zum Luftangriff gebenden Kommandeur die effektive Kontrolle überlassen. Sein Handeln ist somit der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich zuzurechnen.
Fazit
Das bisherige völkerrechtspraktische Defizit hinsichtlich der Anerkennung individueller Wiedergutmachungsansprüche hat eine Rechtsentwicklung ausgelöst, nach der nunmehr die Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts auf die Staatshaftung wegen Amtspflichtverletzungen verschoben wird. Die Fundierung eines eigenen völkerrechtlichen Schadensersatzanspruches, der Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen koordiniert, wäre zwar rechtspolitisch vorzuziehen, ist aber immer noch in weiter Ferne. Dementsprechend wird die Anwendung des Staatshaftungsrechts nach Art. 34 GG im Fall des Bombardements bei Kunduz darüber entscheiden müssen, ob die Errungenschaften des humanitären Konfliktvölkerrechts doch wieder nur eine Chimäre bleiben.
Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de