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Das Grundgesetz als Maßstab für Bundeswehreinsätze im Rahmen der neuen NATO-Strategie

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II18 Martin Kutscha

Foto: © 2013 by Schattenblick – www.schattenblick.de

Das Grundgesetz als Maßstab für Bundeswehreinsätze im Rahmen der neuen NATO-Strategie

Von Martin Kutscha

Pazifismus als Verfassungsgebot

Als „Gegenentwurf“ zum kurz zuvor überwundenen NS-Regime enthält das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 eine explizit pazifistische Grundsatzaussage: Art. 26 GG erklärt „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“, für verfassungswidrig und strafwürdig. Auch als Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in das Grundgesetz eingefügt wurden, trug man dieser Grundsatznorm Rechnung. Die neuen Streitkräfte sollten nur der Verteidigung dienen, wie Art. 87a GG bestimmt. Was „Verteidigung“ bedeutet, wird im „Pfaff-Urteil“ des BVerwG vom 21. Juni 2005 dargelegt, nämlich die Abwehr eines militärischen Angriffs, nicht hingegen die „Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen.“

Durch die Notstandsgesetzgebung im Jahre 1968 erhielt Art. 87a GG seine bis heute geltende Fassung. Er hält am Verteidigungsauftrag fest, lässt den Streitkräfteeinsatz darüber hinaus aber auch im Inneren unter eng begrenzten Voraussetzungen zu: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Solche „ausdrücklichen Zulassungen“ finden sich nur in Gestalt der Absätze 3 und 4 dieses Artikels, ferner in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG. Diese Regelungen beziehen sich auf Ausnahmezustände wie den Verteidigungs- oder Spannungsfall sowie Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle, bei denen die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden darf.

Bei der Schaffung dieser Regelung gingen Bundestag und Bundesrat davon aus, dass damit „alle denkbaren Bundeswehreinsätze verfassungsrechtlich abschließend geregelt“ seien, wie der am Gesetzgebungsverfahren beteiligte SPD-Rechtspolitiker Claus Arndt später feststellte. Damit im Einklang betrachtete jede Bundesregierung die Möglichkeit von Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Ausland als nicht gedeckt vom Grundgesetz. Dies änderte sich erst nach der weltpolitischen Zäsur von 1989/1990: Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktsystems und der Erlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik durch den Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 entdeckten die damalige Kohl-Regierung und führende Militärs die „neue Verantwortung Deutschlands in der Welt“ und meinten, sie durch die Entsendung von Bundeswehreinheiten an verschiedene Schauplätze „out of area“ wahrnehmen zu müssen. So beteiligten sich Marine- und Luftwaffeneinheiten der Bundeswehr 1992 bis 1996 an der Überwachung des Waffenembargos gegenüber Jugoslawien, und deutsche Soldaten gehörten zu den Besatzungen von AWACS-Flugzeugen der NATO, die 1993 bis 1995 die Einhaltung des Flugverbots über Bosnien kontrollierten. Auch der Somalia-Einsatz der Bundeswehr 1993/1994 ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

Ein weiter Schritt über Grenzen: Das „Streitkräfte-Urteil“ des BVerfG von 1994

Die damals in der Opposition befindliche SPD beharrte zu Recht darauf, dass für eine solche Erweiterung des Einsatzspektrums der deutschen Streitkräfte eine Verfassungsänderung notwendig sei. Im August 1992 stellte die SPD-Bundestagsfraktion beim BVerfG Anträge auf Feststellung, dass die Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen im Mittelmehr, in den AWACS-Flugzeugen sowie in Somalia verfassungsmäßige Rechte des Parlaments verletzt habe. In den Antragsschriften zu diesen Verfahren wurde zutreffend argumentiert, dass Art. 87a Abs. 2 GG die Grundlage für jeglichen Einsatz der deutschen Streitkräfte sei. 

Über die Bedeutung des Art. 87a GG für Auslandseinsätze der Bundeswehr gab es bei der Beratung über die SPD-Anträge im Zweiten Senat des BVerfG keine Einigkeit. Schließlich fand man eine „elegante“ Lösung des Problems, indem diese Norm einfach ignoriert und statt dessen auf Art. 24 Abs. 2 GG verwiesen wurde. Danach kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ und die damit verbundenen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte hinnehmen. „Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen im Rahmen eines solchen Systems sollten“, so das Gericht, durch den später geschaffenen Art. 87a „nicht eingeschränkt werden“. Dabei wurde geflissentlich verschwiegen, dass die Einordnung in ein solches System keineswegs mit der Bereitstellung von Militär für die UNO oder für die NATO verbunden sein muss. Zum Zeitpunkt der Schaffung des Art. 24 im Jahre 1949 gab es schließlich noch keine Bundeswehr, und es ist höchst fraglich, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber von 1968 eine Umgehung der strikten Festlegung auf die „Verteidigung“ in Art. 87a über die völkerrechtliche Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 zulassen wollte.

Möglicherweise als Ausdruck des Unbehagens wegen der Umgehung des Art. 87a GG kreierte das Gericht immerhin einen Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen“. Diesen – in der Verfassung nicht ausdrücklich normierten –  Parlamentsvorbehalt hat das BVerfG in späteren Entscheidungen bekräftigt, so in seinem Urteil zum AWACS-Einsatz im Luftraum über der Türkei vom 7. Mai 2008 sowie im Urteil vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob das Parlament als „Friedenswächter“ gegenüber der Regierung überhaupt geeignet ist: Nur die Opposition hat ein Interesse an Kontrolle und Kritik der Regierung, während die Parlamentsmehrheit im Regelfall bestrebt sein wird, das Handeln der jeweiligen Regierung zu stützen und damit die Chancen ihrer Wiederwahl zu verbessern. Der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, ja häufig sogar eine informelle Große Koalition hat denn auch jedem der inzwischen über 50 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Streitkräftekontingente im Ausland einzusetzen, ihre Zustimmung erteilt.

Immerhin statuierte das BVerfG in seinem Grundsatzurteil 1994 eine Beschränkung, deren besondere Brisanz sich erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erweisen sollte: Es legitimierte nur Bundeswehreinsätze, die „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit, also konkret den Vorgaben des NATO-Vertrages sowie der UNO-Charta, stattfinden. „Im Rahmen und nach den Regeln“ der völkerrechtlichen Grundlagen von UNO und NATO bewegte sich die Bombardierung Jugoslawiens durch NATO-Streitkräfte unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr im März 1999 nämlich keineswegs. Weder lag ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 der UNO-Charta vor noch handelten die beteiligten NATO-Staaten auf der Grundlage einer Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat – damit handelte es sich um eine Verletzung des Gewaltverbots. Darauf wiesen Völkerrechtler eindringlich hin, fanden dabei aber nur Unterstützung durch die Friedensbewegung und im parlamentarischen Raum durch die PDS, während die anderen im Bundestag vertretenen Parteien den Militäreinsatz billigten und mit der (im Völkerrecht mit guten Gründen überwiegend abgelehnten) Legitimationsformel der „humanitären Intervention“ zu rechtfertigen versuchten. Die PDS-Bundestagsfraktion stellte daraufhin beim BVerfG den Antrag auf Feststellung, dass die Beteiligung der Bundeswehr gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes verstoße und der Bundestag dadurch in seinen Rechten und Pflichten verletzt sei. Mit Beschluss vom 25. März 1999 verwarf das BVerfG den Antrag als unzulässig. Es verwies darauf, dass der Bundestag in seiner Sitzung am 16. Oktober 1998 die Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an dem Kriegseinsatz gegen Jugoslawien ja schon vorab erteilt hatte, verfassungsmäßige Rechte des Bundestages in diesem Fall also nicht verletzt worden seien.

Schon wenige Monate später, im Herbst 1999, unternahm die PDS-Bundestagsfraktion einen neuen Anlauf beim BVerfG. Beantragt wurde diesmal die Feststellung, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept der NATO (in dessen Konsequenz schließlich auch der Angriff auf Jugoslawien lag) das Zustimmungsrecht des Bundestages gemäß Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz verletzt habe. 

Am 22. November 2001 – sicher nicht unbeeinflusst von der politischen Stimmungslage nach den Terroranschlägen am 11. September – wies dann der Zweite Senat des BVerfG den Antrag als unbegründet zurück. Die Bundesregierung habe mit ihrer Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept der NATO nicht das Mitwirkungsrecht des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletzt. Die bloße „Fortentwicklung“ des NATO-Systems, die keine Vertragsänderung darstelle, bedürfe keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages. Aus dem Inhalt des 1999 beschlossenen neuen strategischen Konzepts der NATO, so hieß es weiter, gehe nicht hervor, dass das nordatlantische Bündnis seine Bindung an die Ziele der Vereinten Nationen und die Beachtung ihrer Satzung aufgeben will.

Immerhin wird die reichlich wohlwollende Interpretation des NATO-Beschlusses durch das Gericht ergänzt durch eine deutliche Ermahnung an die Grenzen, die das Grundgesetz der Beteiligung Deutschlands an internationalen Bündnissystemen setzt: „Schon die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 GG schließt aber auch aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage des nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 GG ergangenen Zustimmungsgesetzes zum NATO-Vertrag gedeckt sein“. 

Aber wo genau endet die „Wahrung des Friedens“ und beginnt eine Militärpolitik von NATO-Mitgliedern, deren Ziel statt dessen in der Durchsetzung von politischen und ökonomischen Interessen rund um den Erdball besteht? Auch die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ des Bundesministers der Verteidigung vom 27. Mai 2011 lassen schließlich die kaum verhüllte Intention erkennen, die deutschen Streitkräfte künftig auch zur Sicherung wirtschaftlicher Interessen einzusetzen. Nach diesen Richtlinien gehört zu den „deutschen Sicherheitsinteressen“ auch, „einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen.“ Soll danach die Bundeswehr gegen einen Staat eingesetzt werden dürfen, der z. B. Bergwerke als wichtige Rohstofflieferanten sozialisiert oder seine einheimischen Produzenten durch hohe Einfuhrzölle vor dem angeblich freien Weltmarkt schützt?

Tornados vor dem BVerfG

Auch stellt sich die Frage nach der verfassungs- und völkerrechtlichen Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Immerhin spricht einiges für die Vermutung, dass es “vor Ort“ keineswegs eine klare Trennung zwischen der von den USA angeführten „Operation Enduring Freedom“ und dem vom Sicherheitsrat der UNO mandatierten ISAF-Einsatz, an dem Deutschland beteiligt ist, gibt. In seinem „Tornado-Urteil“ vom 3. Juli 2007 mochte das BVerfG diese Bedenken nicht teilen. 

Die Verletzung des Völkerrechts durch einzelne militärische Einsätze der NATO, so das Gericht, könne zwar ein Indikator dafür sein, dass sich die NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung strukturell entfernt. Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren eröffne allerdings keine allgemeine Prüfung der Völkerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der NATO. – Angesichts dieses Verzichts auf eine verfassungsrichterliche Kontrolle der Einsatzpraxis erstaunt das Ergebnis im Hinblick auf die NATO umso mehr: An „Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung fehlt es. Die angegriffenen Maßnahmen lassen keinen Wandel der NATO hin zu einem Bündnis erkennen, das dem Frieden nicht mehr dient und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen daher nicht mehr beteiligen dürfte.“

Man würde den Mitgliedern des Gerichts sicher Unrecht tun, wenn man eine solche Einschätzung der NATO-Militäreinsätze als Ausdruck professionell bedingter Naivität wertet. Das Ergebnis dürfte eher dem Bestreben des Gerichts geschuldet sein, bei Entscheidungen von so grundsätzlicher Bedeutung wie dem Engagement in der NATO der Regierung nicht in den Arm zu fallen. Immerhin wird niemand Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht, der nicht das Vertrauen der beiden großen Bundestagsparteien genießt – dafür sorgt der Wahlmodus. Insgesamt ist jedenfalls die Einschätzung zutreffend, dass die Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts „stets um die reale gesellschaftliche und politische Macht oszillieren.“

Mit Recht zieht der Lübecker Politikwissenschaftler Robert Chr. van Ooyen denn auch ein ernüchterndes Fazit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr: Das Gericht gäbe der Regierung „so weit wie möglich ‚Carte blanche’, indem es die Verfassung durch dynamische Grenzverschiebungen Stück für Stück flexibilisiert hat: vom verfassungspolitischen Grundkonsens einer Ablehnung zur Grundentscheidung der Zulässigkeit der ‚Out-of-Area-Einsätze’, von der engen, klassischen ‚kollektiven Sicherheit’ (UN) zum weiten Begriff unter Einschluss insbesondere der NATO, vom bloßen Auftrag kollektiver Selbstverteidigung der NATO zum erweiterten Sicherheitsbegriff des neuen Strategiekonzepts, schließlich, als aktuell letzter Schritt in der Tornado-Entscheidung, vom räumlich begrenzten euro-atlantischen Bezug der Sicherheit zur globalisierten Sicherheit. Damit sind Auslandseinsätze der Bundeswehr in räumlicher und inhaltlicher Hinsicht („Frieden“) mit einfacher Parlamentszustimmung nahezu unbegrenzt möglich.“ Die – angesichts bitterer Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus recht eindeutigen – Grenzziehungen unserer Verfassung für den Streitkräfteeinsatz, so wäre hinzuzufügen, haben sich durch diese Rechtsprechung nahezu völlig verflüssigt. Dies sollte jedoch kein Anlass zu Resignation sein, sondern Ansporn, mit der Aufklärung „im Lichte des Verfassungsrechts“ nicht nachzulassen.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und ist Mitglied im Vorstand der deutschen Sektion der IALANA.

Quelle: Online-Zeitung Schattenblick, www.schattenblick.de